: Zwischen allen Lagern
In der ostkongolesischen Provinz Nord-Kivu stehen sich drei Armeen gegenüber: Die Regierungsarmee FARDC (Streitkräfte der Demokratischen Republik Kongo), die zusammen mit der UN-Mission im Kongo (Monuc) vor allem die großen Städte kontrolliert; die von Tutsi-General Laurent Nkunda geführte Rebellenbewegung CNDP (Nationalkongress zur Verteidigung des Volkes), die einen großen Landgürtel rings um die Provinzhauptstadt Goma beherrscht; und die ruandische Hutu-Miliz FDLR (Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas), die weite ländliche Gebiete im Hinterland beherrscht. FDLR und FARDC arbeiten gegen den CNDP zusammen. In Kenia laufen derzeit zwischen CNDP und Kongos Regierung Friedensgespräche unter UN-Vermittlung. D. J.
AUS KIBATI UIND SHASHA ILONA EVELEENS
Zwei Männer versuchen mit Hammer und Meißel den schwarzen Lavastein zu zertrümmern. Obwohl sie über die Statur eines Arnold Schwarzenegger verfügen, kommen sie nur langsam voran. Sie müssen Löcher schlagen, tiefe Löcher, um weitere Latrinen für das Lager zu bauen. „Die Cholera hat sich schon ausgebreitet. Wir wollen nicht noch mehr Fälle bekommen“, sagt Rienk de Lange von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Cholera-Fälle kommen immer wieder in der Region um Goma vor, 10.000 Erkrankungen gab es allein in diesem Jahr.
Das Flüchtlingslager Kibati, nicht weit von der ostkongolesischen Stadt Goma, ist ein Ort des Elends, wie jedes Lager auf der Welt. Durch den harten Lavastein ist das Leben besonders mühsam. Die Menschen schlafen auf dünnen Matratzen auf dem harten Boden, der sich von der Sonne nicht richtig aufwärmt. In anderen Lagern beginnen die Flüchtlinge sonst nach ihrer Ankunft sofort irgendetwas anzubauen. Das Land ist ja außergewöhnlich fruchtbar. Aber der Lavastein lässt das in Kibati nicht zu.
Massaka Kamara läuft ziellos durch das Lager. „Meine Felder waren reif für die Ernte, und ich besaß 35 Säcke mit Holzkohle. Meine zwei Kühe, sechs Ziegen und zwei Hühner sind längst in den Mägen der Soldaten gelandet.“ Anfang dieses Jahres ist Kamara von seinem Hof westlich von Kibati geflohen. Jetzt wandert er ziellos zwischen den langen Reihen der Hütten umher, die aus Hölzern und Bananenblättern errichtet wurden. Plastikplanen sollen sie gegen den häufigen Regen schützen. Das Lager befindet sich am Fuß des Nyiragongo-Vulkans, wo selbst an sonnigen Tagen eine dunkle Wolke die Krateröffnung verbirgt.
Massaka Kamara ist vor den Kämpfen zwischen den CNDP-Rebellen von Laurent Nkunda und der kongolesischen Armee geflohen. Zwar herrscht vorläufig Waffenstillstand, aber der Bauer hat Angst heimzukehren. „Die Armee hat alles mitgenommen, aufgegessen oder zerstört.“
Ortswechsel. 40 Kilometer nördlich sehen die sechzehnjährige Bertine und ihre Mutter Geneviève einem Fußballspiel der Jugendlichen im Lager von Shasha zu. In beiden Mannschaften spielen Jungen und Mädchen gemischt, sie lachen und schreien, machen aber kaum Tore. Auf Bertine und ihre Mutter Geneviève überträgt sich diese Ausgelassenheit nicht. „Ich hatte zwar früher kein Geld, um meine fünf Kinder in die Schule zu schicken, aber wir hatten wenigstens genügend zu essen“, berichtet die Mutter.
Genevièves Familie hat alles verloren, was sie besaß, als die CNDP-Rebellen durch ihr Dorf zogen. Tochter Bertine wurde während der Flucht von Rebellen vergewaltigt. Das Mädchen will nicht darüber sprechen. Ihre Mutter klagt: „Die Nkunda-Männer hatten uns doch schon alles weggenommen. Warum mussten sie auch noch meiner Tochter ihre Keuschheit rauben?“ Geneviève weiß, dass ihre Tochter nicht die Einzige in Shasha ist, die vergewaltigt wurde. Und Vergewaltigungen kommen weiterhin vor, die Frauen müssen zum Brennholzsuchen in die Wälder.
Der Fußballplatz in Shasha, wo der Ball durchs hohe Grass fliegt, liegt nicht weit vom Ufer des Kivu-Sees. Fischerboote liegen still auf dem Wasser in der Sonne. In den Bäumen am Ufer warten grauweiße Eisvögel auf Fische, die sie mit ihren langen Schnäbeln aufspießen. Auf der Landseite ist Shasha umgeben von Bergen, die bis hoch oben von Feldern gesäumt sind. Eine traumhaft schöne Landschaft, zersiedelt von unzähligen Flüchtlingslagern, in denen etwa eine Million Menschen leben.
Nach den ersten demokratischen Wahlen im Kongo 2006 herrschte die Hoffnung, nun könnten Gewalt, Chaos, Plünderungen und Korruption ein Ende nehmen. Aber die naive Erwartung schwand bald dahin. Alte ethnische und ökonomische Konflikte lebten erneut auf, und seit August ist der alte Konflikt wieder offen ausgebrochen.
Gewalt und Vergewaltigungen gehören seither wieder zum Alltag. In der ersten Hälfte dieses Jahres meldeten sich 5.700 vergewaltigte Frauen in Nord-Kivu in Krankenhäusern. Die Spitze der Spitze des Eisbergs, vermuten Hilfsorganisationen. In einem auf solche Fälle spezialisierten Krankenhaus in Goma ließen sich in den letzten fünf Jahren 18.000 Frauen behandeln. „Ostkongo ist für Frauen der schlimmste Ort der Welt“, meint Anneke Woudenberg von der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Genaue Zahlen gebe es nicht, ergänzt sie. Vermutlich sei die Armee verantwortlich für die Hälfte der Vergewaltigungen, die anderen 50 Prozent gingen auf das Konto der verschiedenen Rebellengruppen und Milizen. „In diesem Land gibt es keinen guten oder schlechten Politiker“, sagt Geneviève dazu, die Mutter der vergewaltigten Bertine. „Im Kongo haben nur bewaffnete Männer in verschiedenen Uniformen die Macht. Sie benutzen ihre Gewehre, um zu töten, zu vergewaltigen und zu rauben. Und wir, die Bevölkerung, leiden unter allen.“
Auch im Lager von Kibati sind Vergewaltigungen noch immer alltäglich, weiß Massaka Kamara. „Außerdem bedrohen uns oft Soldaten, wenn Nahrung verteilt wird.“ Der Bauer ist nicht zum ersten Mal Flüchtling. 1996 suchte er bereits Schutz in einem Lager, als Laurent Kabila, der ermordete Vater des jetzigen Präsidenten, nach Kinshasa marschierte, um Diktator Mobutu abzusetzen. „Damals halfen die kongolesischen und die ruandischen Tutsi ‚Papa Kabila‘ bei dem Marsch“, erinnert sich der Bauer. „Wir haben mit den Tutsi hier im Kongo immer problemlos zusammengelebt. Aber seit dem Völkermord in Ruanda ist das vorbei. Tutsi wie Nkunda suchen nach den hierher geflohenen Mördern des Genozids und streiten sich mit der Armee.“ Die kongolesische Regierung wiederum beschuldigt das Nachbarland Ruanda der Unterstützung des Rebellenführers Nkundas.
Die im Kongo stationierte UNO-Friedensmacht oder Monuc, wie sie abgekürzt heißt, schafft es nicht, die Bevölkerung vor Übergriffen von Armee oder Rebellen zu schützen. Viele Blauhelme haben Angst, ihr Mandat ist unzureichend und selbst 17.000 Mann sind eine viel zu kleine Armee für ein so großes Land. In einer neueren Umfrage gaben nur zwei Prozent der Bevölkerung Gomas an, Vertrauen in Monuc zu haben. Der Rest traut bloß noch Gott. „Ich kann nur noch beten. Meine Hoffnung auf Frieden habe ich verloren“, sagt Massaka Kamara.
Wie er sind viele vertriebene Kongolesen in den letzten 12 Jahren mehrfach vor Soldaten, Rebellen oder Milizen geflohen. Nur wenige Lagerbewohner in Kibati weisen die völlig desolate Haltung derjenigen auf, die zum ersten Mal alles verloren haben. „Irgendwie gewöhnt man sich beim zweiten oder dritten Mal schneller ans Lagerleben“, meint Kamara. „Wir Kongolesen sind darin Meister.“
Die Lager Kibati und Shasha werden von der Armee bewacht. Die Hilfsorganisationen würden Kibati gern abreißen und einige Kilometer entfernt neu aufbauen, weil das Lager zwischen den Stellungen der Armee und der ganz in der Nähe befindlichen Rebellen liegt. Aber trotz des harten unfruchtbaren Bodens von Kibati und trotz ihrer verzwickten Lage sind die Vertriebenen gegen die Verlegung. Sie haben nicht die Energie, eine neue Hütte aus Stöckern und Bananenblättern zu errichten. Als die meisten Vertriebenen hier vor einen Monat ankamen, existierte bereits ein Lager mit Bretterbuden und kleinen Geschäften. Dort leben die Menschen aus Goma, die ihr Haus verloren haben, als der Nyiragongo 2002 wütend Lava spuckte und einen großen Teil Gomas überflutete. „Wir fühlen uns hier okay. Wir leben zwar zwischen den feindlichen Lagern, aber auch die Monuc hat ja ein Lager hier“, erklärt Massaka Kamara. „Ich habe nicht die Kraft, noch einmal umzuziehen.“
In Kibati kennen viele Flüchtlingskinder nur die Lagerkultur. Sie betteln ohne Scheu bei jedem Weißen, der in ihren Augen für eine Hilfsorganisation arbeitet. Die meisten stecken ihre oft dreckigen Händchen aus und fordern: „Kekse, Geld, Bleistift.“ Massaka Kamara schüttelt den Kopf.„Was soll aus den Kindern werden? Es gibt hier keine Schulen, sie lungern herum, und keiner erzieht sie.“ Mit müden Schritten läuft er langsam zu seiner Lagerunterkunft, während es Abend wird. Er schaut auf den Vulkan. Die dunkle Wolke ist verschwunden. Die kochende Lava färbt den schnell dunkel werdenden Himmel rot.