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Archiv-Artikel

Spirituell betatscht

Ein großartiger Roman über die Tücken fundamentalistischer Religiosität: Shalam Auslanders „Eine Vorhaut klagt an“

VON MARGRET FETZER

Gerade in Deutschland gibt es kaum etwas politisch Inkorrekteres als Judenwitze. Lustige Juden gibt es allerdings zuhauf – zuletzt Adam Sandler in dem Film „Leg dich nicht mit Zohan an“, wo sogar der Nahostkonflikt durch den Kakao gezogen wird. Von Israel wandert Zohan in die USA aus, wo die Geschäfte von Palästinensern, Arabern und Juden friedlich eine Einkaufsstraße säumen, die Löwen, frei nach Jesaja, also bei den Lämmern wohnen. Im Gegensatz dazu zeichnet der Schriftsteller Shalom Auslander in seinem Roman „Eine Vorhaut klagt an“ ein wesentlich weniger rosiges Bild des orthodoxen Judentums im Großraum New Yorks – aber er ist dabei kaum weniger unterhaltsam als Sandler.

Im amerikanischen Original trug „Foreskin’s Lament“ den Untertitel „a memoir“. Es verwundert nicht, dass die deutsche Ausgabe auf diese Genre-Bezeichnung verzichtet, lässt sie doch eine lineare Entwicklung erwarten, von der in diesem Buch keine Rede sein kann. Stattdessen gibt es zwei Zeitebenen, eine, die sich mit der Kindheit und dem Heranwachsen des Protagonisten befasst, und eine, die den jetzigen Istzustand wiedergibt, in dem Shalom mit Orli verheiratet ist, die ihr erstes gemeinsames Kind erwartet. Beide Perspektiven werden durch den Icherzähler Shalom vermittelt, der über sich selbst berichtet und sich dabei, nun ja, wie eine Vorhaut fühlt: „Sehr wie eine Vorhaut. Abgeschnitten von meiner Vergangenheit, meiner Zukunft nicht sicher, blutend, geschlagen, weggeschmissen.“ Das hört sich nun zugegebenermaßen alles andere als witzig an, aber glücklicherweise verbindet Auslander derartiges Pathos stets mit einer gehörigen Portion Selbstironie, und so fährt er fort: „Ich fragte mich, ob es einen Ort gab, wo Vorhäute hinkonnten, einen, wo sie zusammenleben konnten, friedlich, geliebt, gebraucht, eine Nation der Vorhäute, für die Vorhäute.“

Reizvoll ist, dass man nie genau weiß, was Shalom Auslander nun tatsächlich erlebt hat und was er seinem Icherzähler zum Zweck fiktiver Ausschmückung anhängt. Autor und Icherzähler sind gleichermaßen Schriftsteller – aber schon früh erkennt Shalom, was Literaten unter „Substanz hinzufügen“ oder „einen Haken“ verstehen, und immer wieder findet sich der Satz „Die Bilder geben nicht den tatsächlichen Inhalt wieder“. Fest steht aber, dass der Autor Shalom Auslander in einer jüdisch-orthodoxen Familie im Staat New York groß geworden ist – und dass der gleichnamige Protagonist seines aktuellen Romans denselben Hintergrund hat und deshalb unter latentem Verfolgungswahn leidet. Weil seine Paranoia weniger psychologisch denn religiös bedingt ist, bringt es auch nichts, dass er seinem Seelenklempner Ike Woche für Woche 350 Dollar in den Rachen wirft. Shalom ist, wie seine Frau und er rückblickend konstatieren, ein Opfer „theologischen Missbrauchs“, er wurde „spirituell betatscht“ und „religiös befummelt“.

Was für andere normale Pubertätserfahrungen sind, bedeutet im Falle Shaloms die willentliche Provokation eines omnipräsenten Richtergottes: „God is here, God is there, God is truly everywhere!“ – so hat er es schon im Kindergarten gelernt. Aber wenn man jemanden von klein auf kennt, entwickelt man so seine Tricks. Shalom jedenfalls glaubt, sich gottesfürchtig zu verhalten, wenn er aufgestöberte Pornohefte nach ausgiebiger Lektüre verbrennt. Aber welche Nahrungsmittel „trefe“, also nicht-koscher sind, das weiß Shalom nur zu gut – schließlich haben ihm seine Rabbis jene seitenlangen Vorschriften bis zum Abwinken eingetrichtert. Trotzdem ist die Faszination, die von einem Hotdog ausgeht, kein bisschen geringer als die eines Heftchens namens „Shaved Orientals“: Shalom muss diese phallische „Stange Fleisch“ verschlingen und ergeht sich immer wieder in unkoscheren Fressorgien, die an Bulimie grenzen, selbstverständlich immer hinter dem Rücken seiner Familie und Freunde.

Überhaupt die Eltern: Shaloms Vater ist gewalttätig, und seiner Mutter fällt nichts anderes ein, als Einrichtungsmagazine zu lesen und wenig nachdrücklich „Bitte“ zu sagen, während ihr Mann mal wieder ohne ersichtlichen Grund seine Söhne verhaut. Dummerweise imaginieren Juden wie Christen ihren Gott als Vaterfigur – und so ist Shaloms Gott genauso willkürlich und brutal wie sein leiblicher Vater. Und weil Gott die Sünden der Väter bis ins vierte Glied verfolgt, scheint auch Shaloms Sohn keine guten Karten zu haben. Jedenfalls ist Shalom, sobald das Babyfon Ruhe gibt, fest überzeugt davon, dass sein Sohn urplötzlich gestorben sein müsse. Dessen Name, Paix, bedeutet übrigens wie der seines Vaters „Frieden“ – allerdings in amerikanisch assimilierter Form. Anders als Shalom, dessen Name einer der vielen jüdischen Bezeichnungen für Gott ist und der deshalb mit allem, worauf sein Name stand, äußerst sorgsam umgehen musste, kann Paix seine Schulhefte also eines Tages nach Lust und Laune durch die Gegend werfen.

Shalom Auslander ist ein großartiger Roman über die Tücken fundamentalistischer Religiosität gelungen. Auch am Schluss hadert sein Icherzähler noch immer mit Gott. Weder ein Jahr Israel noch seine Entjungferung durch eine New Yorker Prostituierte haben daran etwas geändert. Seine jüdische Erziehung prägt den erwachsenen Shalom zu sehr, als dass er sich endgültig davon distanzieren könnte, und entsprechend durchdringen die Rückblenden in seine Kindheit auch das Lamento dieses Buchs. An entscheidenden Wendepunkten im Leben Shaloms – das heißt immer dann, wenn Gott ihm wieder einmal kräftig dazwischengepfuscht hat – packt ihn die Angst, und er verschiebt seine gotteslästerlichen Texte am PC in den Papierkorb, und wenn es ganz schlimm kommt, leert er diesen auch gleich. Zum Glück hatte Gott ein Einsehen und hat sich zumindest so weit zurückgehalten, dass Auslander nicht auch noch das Manuskript zu diesem Roman gelöscht hat. Denn auch wenn er sich dafür auf der letzten Seite bei Gott entschuldigt, ist „Eine Vorhaut klagt an“ alles andere als „bloß ein blödes Buch“.

Shalom Auslander. „Eine Vorhaut klagt an“. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Berlin Verlag, Berlin 2008, 352 Seiten, 19,90 Euro