: „Italien fehlen die Antikörper“
INTERVIEW MICHAEL BRAUN
taz: In der italienischen Linken streitet man seit Monaten darüber, ob wir bei Berlusconi von einem „Regime“ sprechen müssen oder nicht. Wie ist Ihre Meinung?
Giovanni Sartori: „Regime“ ist ein Begriff, der immer auch für nicht diktatorische Systeme verwendet wurde; zum Beispiel war die Rede vom „gaullistischen Regime“ oder auch – früher in Italien – vom „christdemokratischen Regime“. Genauso kann man heute von einem „Berlusconi-Regime“ sprechen. Es bedeutet lediglich, dass dieses System Anomalien aufweist, die an die Person Berlusconis gebunden sind. Das ist gar nicht beleidigend gemeint, sondern hält nur eine Tatsache fest: dass dieses System von der Normalität abweicht.
Worin besteht im italienischen Fall die Anomalie?
In Berlusconi. Früher hatten wir als Anomalie den „Faktor K“, die Präsenz einer starken Kommunistischen Partei. Heute haben wir den „Faktor B“, der gleichermaßen als Störfaktor wirkt, weil wir da einen Herrn vorfinden, der das gesamte Privatfernsehen in der Hand hat und der mit seinem Aufstieg zum Ministerpräsidenten auch das staatliche Fernsehen kontrolliert. Praktisch hat er ein Monopol der Information via Fernsehen – das ist eine enorme Anomalie …
… und schlecht für die Demokratie.
In keinem demokratischen Regime ist das akzeptabel. Berlusconi lebt mit einem enormen Interessenkonflikt, der gesetzlich in keiner Weise geregelt wurde; und der jetzt vorliegende Gesetzentwurf der Regierung segnet diesen Konflikt bloß ab. Schlechter kann es für eine Demokratie gar nicht kommen, denn das Informationsmonopol ist eines der definitorischen Merkmale von Diktaturen. Umgekehrt heißt das noch nicht, dass wir in einer Diktatur leben, denn Berlusconi stellt sich freien Wahlen – aber diese manipuliert er, wie er will.
Genau das wird selbst von Teilen der italienischen Linken bestritten: Berlusconi habe im Jahr 2001 nicht wegen seiner Medienmacht gewonnen, und 1996 habe er die Wahlen ja sogar verloren. Man solle ihn und seine Medienmacht also nicht „dämonisieren“.
Das ist eine Rieseneselei. Die Wahlen sind Ausdruck der öffentlichen Meinung. Wenn die öffentliche Meinung nun von einem einzigen „Padrone“ und Manipulator kontrolliert wird, ist das ein ganz wichtiger Faktor. Die Wahlen von 1996 widerlegen gar nichts, denn damals hatten wir noch eine Duopolsituation, weil die Mitte-links-Parteien die staatliche RAI kontrollierten. Und was heißt hier „dämonisieren“? Wenn eine Sache nicht stimmt, dann muss man das auch aussprechen. Den „Faktor B“ herunterzuspielen – das ist das Dümmste, was die Opposition tun kann.
Und warum tut sie das Ihrer Meinung nach?
Dahinter steckt auch ein schlechtes Gewissen, denn als die Linke an der Regierung war, hat sie den Interessenkonflikt nicht geregelt. Jetzt tut es Berlusconi, natürlich in seinem Sinne. Und warum hat die Linke andererseits nichts unternommen, um das öffentliche Fernsehen besser vor dem Zugriff Berlusconis zu schützen? Mit dieser Linken laufen wir das Risiko, noch lange Berlusconi an der Macht zu sehen.
Aber die Opposition tröstet sich gerade damit, dass auch Berlusconis Informationsmonopol die wachsende Unzufriedenheit der Bürger nicht bremsen kann.
Da werden zwei Sachen durcheinander gebracht. Natürlich verstehen es die Leute selbst, wenn ihr Portemonnaie leer ist, wenn die Steuern zu hoch sind, wenn Einbußen anstehen. Aber selbst da kann das Fernsehen noch erklären, dass andere Länder noch schlechter dran sind – und Berlusconi wird das sicher tun. Aber jenseits dieser unmittelbaren Fragen verstehen die Bürger von sich aus gar nichts, wenn sie nicht informiert werden. Klar, wenn mein Schuh drückt, merke ich das selbst, aber wenn – wie jetzt – eine Verfassungsreform verhandelt wird, versteht keiner deren Tragweite, weil nicht transparent informiert wird.
Kann man sagen, dass Berlusconi – anders als andere Populisten in Europa – wegen seiner Medienmacht die politische Macht nicht nur erobern, sondern auch halten konnte?
Ohne seine Medien gäbe es ihn gar nicht. Hätte er ohne sie in zwei Monaten eine Partei aus dem Boden stampfen können, wie er es 1994 tat? Er kontrollierte ja damals nicht nur den halben italienischen Fernsehmarkt, er hat auch seine Partei mit dem Personal seines Konzerns aufgebaut. Das Ganze geschah in einer Situation, in der auf der Rechten ein Vakuum entstanden war, weil die alten Regierungsparteien wegen der Korruptionsermittlungen zusammengebrochen waren. Diese Lücke konnte er füllen, weil er das Fernsehen hatte. Ich hätte kaum die gleiche Chance gehabt.
Müssen wir also von einem demokratischen Notstand in Italien sprechen?
Auf jeden Fall. Einmal an der Macht, kann Berlusconi die Wahlen manipulieren – und sie so gewinnen. Das haben wir in der Praxis noch nicht gesehen, aber im Europawahlkampf wird Berlusconi das Maß an Manipulation vorführen, zu dem er mittlerweile imstande ist. Man muss sich nur an die Referenden erinnern, die in den 90er-Jahren über sein Monopol beim Privatfernsehen abgehalten wurden. Es war einfach unsäglich, wie unkorrekt er seine eigenen Medien einsetzte. Und damit wird er uns auch jetzt bombardieren, wie wir es noch in keiner westlichen Demokratie erlebt haben.
Ist Italien da ein Ausnahmefall oder wird hier nur eine Entwicklung vorexerziert, die auch anderen Demokratien droht?
Ich sehe diese Gefahr nicht. In keiner anderen westlichen Demokratie ist ein Machtvakuum zu erwarten, wie es vor Berlusconis Aufstieg in Italien entstanden war. Außerdem würde kaum ein anderes Land einem Herrn die Kandidatur gestatten, der das Privatfernsehen komplett beherrscht. Überall gilt das als absoluter Ausschlussgrund – nur in Italien haben wir es zugelassen. Drittens schließlich wird die italienische Lektion anderen zur Lehre gereichen. Murdoch kann in keinem der angelsächsischen Länder bei Wahlen antreten.
Rupert Murdoch kann seine Medienmacht doch auch in den Dienst eines befreundeten Politikers stellen. Läuft das nicht auf dasselbe hinaus?
Nein, die Differenz ist kolossal. Wenn ein Kandidat sich heute von Murdoch unterstützen ließe, wäre das ein selbstmörderisches Manöver. Das würde nicht akzeptiert, das wäre kontraproduktiv. Wie Sie sehen, bin ich manchmal auch Optimist.
Nach Berlusconis Aufstieg zum Regierungschef schien es so, als mobilisiere die italienische Gesellschaft ganz neue Gegenkräfte. Zum Beispiel die „Girotondi“, die breite Protestbewegung. Wo ist sie heute?
Die „Girotondi“ sind schon wieder weg, weil Straßenprotest seiner Natur nach schnell vergänglich ist. Meine These ist, dass Italien ein „Land ohne Antikörper“ ist. Üblicherweise haben die Wähler Grundinstinkte, dank deren sie bestimmte skandalöse Situationen einfach „riechen“, auch wenn sie schlecht informiert sind. Antikörper lösen ganz instinktive Antworten aus, weil die Leute von sich aus aufwachen und sagen: Zu viel ist zu viel. Es liegt doch auf der Hand, wie gravierend der Interessenkonflikt ist, den wir erleben: Da unterzeichnet Berlusconi zum Beispiel ein Regierungsdekret, das seine Fernsehsender rettet! Überall auf der Welt versteht man das, bloß bei uns nicht, eben weil die Antikörper fehlen.
Wie erklären Sie sich das?
Wir sind nicht bloß das Land der Gegenreformation, wir sind auch ein Land, das über Jahrhunderte von Invasoren beherrscht wurde, und wir Italiener sind eben gewöhnt zu überleben – und damit auch: uns anzupassen. Italien ist in dieser Hinsicht ein schlaffes, ein schwaches Land.
Ist die Situation also hoffnungslos? Müssen wir uns auf 20 Jahre Berlusconi einstellen?
Der Ausgang zukünftiger Wahlen wird sicher weniger von den Verdiensten der Opposition abhängen als von der Klugheit oder Dummheit der Machthabenden. Ich hoffe einfach auf die Dummheit Berlusconis. Er glänzt ja jetzt schon mit Beispielen, etwa als er über das italienische Kontingent im Irak redete. Es gab dort 19 Tote, das ist also ein stark emotional besetztes Thema, und was sagt Berlusconi? Dass die Soldaten dort unten schließlich gut bezahlt werden, dass sie das Risiko kennen – und dass er als Regierungschef deshalb auch gar keinen Grund sieht, ihnen in Nassirija einen Besuch abzustatten. Wenn er so weitermacht, ist es gut möglich, dass er sich selbst zerstört. Das ist weit wahrscheinlicher, als dass ihn die Linke aus eigener Kraft schlägt.
Wie wirkt sich Berlusconis Informationsmonopol eigentlich für Sie selbst aus? Sie sind ja traditionell ein auch im Fernsehen präsenter Kommentator der politischen Entwicklungen.
Noch. Aber auch ich stehe auf der schwarzen Liste. Ich werde noch zu einigen Sendungen eingeladen, aber bei den ersten beiden Kanälen der RAI habe ich keine Chance. Eine Sendung wie Bruno Vespas „Porta a porta“ [die meistgesehene politische Talkshow Italiens, ausgestrahlt von RAI 1, die Red.] lädt mich nie mehr ein. In anderen Sendungen darf ich zwar noch reden, aber ich habe dann zehn Gegner, die mir alle ständig ins Wort fallen. Auch der Corriere della Sera veröffentlicht noch meine Kommentare, aber es wird immer schwieriger. Die Details behalte ich für mich, sonst fliege ich sofort raus.