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Archiv-Artikel

Warum Winzer keine Autos bauen

AUS MARCHEGG UND BRATISLAVASABINE HERRE

Am Kruttelbach bei Dürnkrut findet um die Mittagszeit des 26.August 1278 die größte Ritterschlacht in der Geschichte Österreichs statt. Hier auf dem Marchfeld, 30 Kilometer östlich Wiens und 30 Kilometer westlich von Bratislava kämpfen Rudolf von Habsburg und Přemysl Otakar II. um die deutsche Königskrone. 12.000 von insgesamt 60.000 Soldaten fallen, darunter auch der böhmische König selbst. Entscheidender aber ist: Mit dieser Schlacht wird die March zur „Völkerscheide“, zur Grenze zwischen Slawen und Germanen.

711 Jahre später findet sich das Marchfeld mit einem Mal in der Mitte Europas wieder. Die Grenze ist verschwunden, und auf dem ganzen Kontinent gibt es keine zwei Hauptstädte, die so nahe beieinander liegen wie Wien und Bratislava. Doch auch nach Brünn, der Hauptstadt Mährens, sind es nur 100 Kilometer, und Budapest liegt 90 Autobahnminuten entfernt. Kein Wunder also, dass Politik und Industrie schon wenige Jahre nach der Wende von 1989 die besonderen Chancen der Region entdecken. Die OECD kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass sich das Vierländereck zwischen Österreich, Tschechien, der Slowakei und Ungarn mit seinen 6,3 Millionen Menschen zu einer der zehn führenden Wirtschaftszentren Europas entwickeln könnte.

An der Osterweiterung der EU verdienen so zunächst die Fachleute für Raumentwicklungsplanung. Dank der finanziellen Unterstützung aus Brüssel sind ihrer Fantasie keine Grenzen gesetzt. Vom „Automotive Cluster Vienna Region“ über die „Telematikinitiative“ bis hin zum „Wellbeing- und Fitnessprogramm für Niederösterreich“ – hunderte Projekte werden in Angriff genommen. Schnell spricht man vom „Goldenen Dreieck“.

Erdöl im Weinviertel

Wer heute durch das Marchfeld fährt, sieht von all dem nur wenig. Die flache, baumlose Landschaft ist dünn besiedelt. In den Dörfern haben viele der einstöckigen grauen Häuser eine Renovierung dringend nötig, nicht viel anders als ein paar Kilometer weiter östlich. Jahrzehntelang haben die Menschen das Marchfeld verlassen, weil sie hier am Eisernen Vorhang keine Arbeit finden konnten. Etwas Reichtum brachte allein die Entdeckung von Erdöl. Rund um Gänserndorf fühlt man sich ein bisschen wie in Little-Texas. Überall wird gebohrt.

Auch in Marchegg, der 1260 von Böhmenkönig Přemysl Otakar gegründeten „Hauptstadt“ der Region, herrscht idyllische Ruhe. Dabei müssten hier eigentlich die Arbeiten an der neuen Brücke über die March in die entscheidende Phase gehen. Pünktlich zum EU-Beitritt der Slowakei am 1.Mai sollte sie fertig sein und das Marchfeld mit der neuen Boom-Region bei Bratislava verbinden. Doch die Bauarbeiten wurden unterbrochen, weil der Rechnungshof die Verbindung für ökologisch unverträglich und zu teuer hält. Auch auf slowakischer Seite ist noch unklar, wie das sumpfige Augebiet bebaut werden kann. Tatsächlich hat sich im Marchfeld, wo die Welt so lange zu Ende war, ein Rückzugsgebiet für seltene Vögel und Wasserpflanzen gebildet. Als Storchenstadt bezeichnet sich Marchegg stolz. Schon 1970 wurde das Gebiet vom World Wildlife Fund zum Naturschutzreservat erklärt.

Leer und verlassen ist daher auch der nagelneue Wirtschaftspark am Rande von Marchegg. Auf einer Fläche von 44 Hektar sollten sich hier Zulieferer für die Autoindustrie jenseits des Flusses ansiedeln und rund 2.000 Arbeitsplätze schaffen. Wie es jetzt weitergeht, ist unklar. „Nächstes Jahr wird die Brücke fertig sein“, sagt August Wieland von der verantwortlichen Wirtschaftsförderungsagentur Ecoplus. „Wann die Brücke fertig wird, weiß ich nicht“, meint dagegen Marcheggs Bürgermeister Peter Schmidt.

Sind es also die Umweltschützer, die die Entstehung des Goldenen Dreiecks verhindern? Schließlich gibt es auch nördlich und östlich, in den Flussauen von Donau und Thaya wichtige Naturreservate. Und selbst im armen Weinviertel, wo die Menschen vom Weinanbau leben, ist man nicht glücklich darüber, dass seit der Grenzöffnung immer mehr Schwerverkehr die Region durchquert.

Boomtown Bratislava

Jenseits der March, am Fuße der Karpatenausläufer, breitet sich VW Bratislava wie eine eigene Stadt aus. 9.000 Arbeitsplätze wurden durch die Investition der Wolfsburger Autobauer in der Slowakei geschaffen, hunderte weitere werden in den Zuliefererbetrieben entstehen. Für diese ist ein völlig neuer Industriepark auf einer Fläche von 1.200 Hektar direkt an der nächsten Autobahnausfahrt bei Malacky entstanden. Täglich rollen rund 500 Lastkraftwagen zwischen den beiden fünfzehn Kilometer entfernten Standorten hin und her, bessere Logistik gibt es in ganz Osteuropa, aber auch in Österreich nicht.

Doch Volkswagen ist nicht allein. Anfang 2003 entschied sich PSA Peugeot Citroën zum Bau einer Firma in Trnava, 40 Kilometer nördlich von Bratislava. Ab 2006 sollen hier jährlich 300.000 Fahrzeuge produziert werden. Ähnliches plant der südkoreanische Hyundai-Konzern, der sich Anfang März für den Standort Slowakei entschied. Bereits jetzt nimmt die kleine 5-Millionen-Einwohner-Republik unter den Autoländern weltweit den 15. Rang ein. Allerdings konzentriert sich der Aufschwung auf die Hauptstadt, landesweit liegt die Arbeitslosigkeit noch immer bei 17 Prozent.

Dank der ausländischen Investitionen kann Bratislava inzwischen ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) vorweisen, das nur noch zwei Prozent unter dem EU-Durchschnitt liegt. Damit gehört es neben Prag zu den reichsten Regionen in den osteuropäischen Beitrittstaaten. Vielen Städten und Gemeinden in Niederösterreich geht es da weitaus schlechter. Im Weinviertel zum Beispiel, zu dem auch das Marchfeld gehört, beträgt das BIP nur 70 Prozent des EU-Durchschnitts. Und auch beim Wachstum liegt die Slowakei ganz vorn: Fast 4 Prozent waren es 2003, Österreich kam auf 1,2 Prozent.

In Zukunft könnte sich dieses Verhältnis noch weiter verschlechtern. Denn Ende 2003 verabschiedete das slowakische Parlament eine grundlegende Steuerreform, die einen einheitlichen Steuersatz von nur 19 Prozent vorsieht. Seitdem warnt nicht nur Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber vor einer Abwanderung deutscher Firmen in die Slowakei. Auch in Wien fürchtet man, dass Österreich seine Funktion als wirtschaftliche Drehscheibe für Osteuropa jetzt verlieren könnte. In einer ersten schnellen Reaktion entschied sich die Regierung von Wolfgang Schüssel, die Körperschaftssteuer von 34 auf 25 Prozent zu senken.

Tatsächlich hat Österreich – ebenso wie Deutschland – von der EU-Osterweiterung bisher besonders profitiert. Im ganzen Land gibt es mehr als 1.700 Firmen, die allein in der Slowakei investierten. Mitte der 90er-Jahre lag die Wachstumsrate in Niederösterreich und dem Burgenland bei fast acht Prozent. Und: Ohne die „billigen“ slowakischen Krankenschwestern wäre die Gesundheitsversorgung Österreichs wohl schon zusammengebrochen.

Die Politik hat mit der wirtschaftlichen Entwicklung jedoch nicht Schritt gehalten. So gibt es auch 15 Jahre nach der Wende noch immer keine vollständige Autobahnverbindung zwischen Wien und Bratislava. Von 60 Kilometern fehlen noch 22. Sie sollen frühestens 2007 fertig gestellt werden. Und auch zwischen Brünn und Wien existiert nur eine nicht besonders gut ausgebaute Schnellstraße. Wer heute von Prag nach Budapest will, wählt daher die Strecke über Bratislava und meidet die österreichische Hauptstadt.

Unzureichend ausgebaut ist auch das österreichische Stromnetz. Da es im Unterschied zu den Nachbarländern nur wenige 380-KV-Leitungen gibt, sind diese oft überlastet und klinken sich aus dem europäischen Netz aus. So wird Österreich von der rasanten Entwicklung im Osten abgehängt.

Slowakisch lernen!

Diese Befürchtung hat man auch bei der niederösterreichischen Gewerkschaft. Doch im Unterschied zu vielen seiner ostdeutschen Kollegen beklagt sich Josef Staudinger nicht. Der Präsident der zuständigen Arbeiterkammer bietet Arbeitnehmern, die Tschechisch, Slowakisch oder Ungarisch lernen, finanzielle Unterstützung. Außerdem hat Staudinger ein Verbindungsbüro in Brno aufgebaut. Dort unterstützen die niederösterreichischen Gewerkschafter ihre tschechischen Kollegen bei Tarifverhandlungen. Staudinger: „Die Löhne jenseits der Grenze müssen schnell wachsen, damit dieser Wettbewerbsvorteil des Ostens kleiner wird.“ Bereits in den letzten Jahren gab es einen jährlichen Anstieg zwischen vier und zehn Prozent. Setzt sich diese Entwicklung fort, könnten die Tschechen 2015 westliches Niveau erreicht haben.

Auf Kooperation mit ihren östlichen Nachbarn setzen auch die Winzer im Weinviertel. In der zentralen Verkaufsstelle in Poysdorf haben sie eine eigene Abteilung für Weine aus Tschechien eingerichtet. „Vor Konkurrenz haben wir keine Angst, wir wissen, was wir können“, sagt die Verkäuferin gelassen. Allzu große Gelassenheit dürfte den Weinbauern freilich nicht gut bekommen. Denn einige Weine aus Mähren sind inzwischen fast so gut wie die österreichischen. Und sie sind billiger. Die Konkurrenz wächst im Osten auf fast allen Gebieten.