Die Logik der eigenen Interessen
Auf der Suche nach dem publizierenden Astralleib: Für die meisten Autoren sind sie wichtige Probebühnen, für Lektoren und Talentscouts interessante Guckkästen, nur das Publikum wird immer kleiner – zur aktuellen Situation der Literaturzeitschriften
„So ein Artikel darf keine Totenrede werden, er sollte enthusiastisch sein!“
VON OLIVER PFOHLMANN
Sie sind die Überlebenskünstler des Literaturbetriebs. Treiben in mehr oder weniger geschützten Nischen schillernde Blüten. Für kleine und kleinste Kreise von Liebhabern. Freilich: Viele sind in Ehren eingegangen. Wer erinnert sich noch an Kürbiskern oder Tintenfisch, an Literaturmagazin oder an Litfass? Und von den „Survivors“ profilieren sich heute viele mehr als Kultur- denn als reine Literaturzeitschriften wie die Neue Rundschau oder das Kursbuch.
„Literarische Zeitschriften sind offenbar nicht mehr zeitgemäß. Man findet sie nur noch selten in Buchhandlungen, nie am Kiosk“, konzedierte jüngst Hanser-Chef Michael Krüger, der selbst mit Akzente eines der letzten Reservate für avancierte Lyrik, Prosa und Essays hütet. Ende 2003 wäre es fast wieder so weit gewesen. Um ein Haar hätte es die neue deutsche literatur (ndl) erwischt.
Die vielen Glückwünsche zum 50. Geburtstag hatten offenbar wenig geholfen. Dem AufbauVerlag, in dem das einstige Organ des DDR-Schriftstellerverbandes seit der Wende erschienen ist, wurden die Zuschüsse zu viel. Die Zahl der Abonnenten, die die mit Erstveröffentlichungen bekannter und unbekannter Autoren prall gefüllten Ausgaben noch wollten, sank allein vergangenes Jahr um etwa 200 – bei einer Auflage von 3.000 eine Katastrophe. Aber wie das bei Überlebenskünstlern so ist: In letzter Sekunde fand sich mit dem Verlag Schwartzkopff-Buchwerke ein neuer Träger.
Wohl kaum ein Sonderfall, denkt man, startet eine kleine Umfrage, hört düstere Bestätigungen, erlebt aber auch Überraschungen. Etwa bei Norbert Wehr, der in Essen das renommierte Schreibheft besorgt: „Alle fünf Jahre taucht einer auf und erkundigt sich nach uns. Dabei geht es uns heute nicht besser oder schlechter als früher. Es gibt eine allgemeine Krise der Buchbranche, von der sind alle betroffen.“ Dem Journalisten legt er nahe: „So ein Artikel darf keine Totenrede werden, er sollte enthusiastisch sein!“
Aber gibt’s denn dafür Anlass? Denn dass die allesamt zuschussbedürftigen, in Kleinstauflagen von meist weit unter 5.000 Exemplaren erscheinenden Literaturzeitschriften langfristig zu einer aussterbenden Gattung zählen könnten, vermuten heute selbst viele ihrer Macher. So etwa Jürgen Engler (ndl) oder Thomas Geiger (Sprache im technischen Zeitalter): „Es ist ein längerer Prozess des Niedergangs.“ Auch wenn der Kreis derer, die sich für experimentelle Literatur, Lyrik oder neue herausfordernde Schreibweisen interessieren, nie sehr groß war, kommen heute neue Probleme hinzu: Stirbt den einen langsam das Stammpublikum aus DDR-Zeiten weg (ndl), machen den anderen die Sparmaßnahmen der Bibliotheken zu schaffen (Spr.i.t.Z.).
Alle aber leiden sie daran, dass solche Periodika, anders als noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren, keine gesellschaftliche Funktion mehr haben. Dass Literatur heute „kein wesentliches Medium der Selbstvergegenwärtigung und -infragestellung darstellt“, wie es der Redakteur der in Graz erscheinenden perspektive, Ralf B. Korte, formuliert: „Die Zeiten des Samisdat sind, vorerst, vorbei.“ Vorbei scheinen auch die Zeiten, in denen sich eine junge Autorengeneration ein eigenes Forum schafft wie einst die Expressionisten mit der Aktion. Man muss nur an Bedeutung und Auflagenzahlen von Zeitschriften wie dem Querschnitt (15.000 Exemplare) oder der Literarischen Welt in der Weimarer Republik (30.000) oder an die Zeitschrifteneuphorie in der Nachkriegszeit denken – heute dürften selbst viele Buchhändler andere Literaturzeitschriften als Sigrid Löfflers Literaturen kaum mehr als dem Namen nach kennen. Symptomatisch ist die Aussage Michael Krügers: „Die treuesten Leser sind sowieso die Schriftsteller selber.“
Ungebrochen ist dagegen das Selbstbewusstsein, mit dem diese Periodika ihr Engagement für avancierte junge Literatur vertreten. Aufgeräumt verkündet Thomas Geiger: „Unser Kerngeschäft ist das, was sich nicht rechnet.“ Das jüngste Heft der vom Literarischen Colloquium Berlin geförderten Zeitschrift Spr.i.t.Z. folgt den Spuren des deutschen Kolonialismus in Südwestafrika in Romanen wie Uwe Timms Frühwerk „Morenga“, bringt Gedichte von Ann Lauterbach und Matthias Göritz und einen großartigen, lesenswerten Essay von Hubert Winkels über Patrick Roth.
Auch Norbert Wehr, dessen Arbeit u. a. die nordrhein-westfälische „Stiftung Kunst und Kultur“ unterstützt, erstellt sorgfältig komponierte Themenhefte –in der Konzentration auf ein Thema pro Ausgabe sieht er einen „Überlebensvorteil“ – fern jeder Aktualität. Wehr will kein „Durchlauferhitzer von Themen“ sein wie etwa Literaturen: „Der Anspruch von Schreibheft ist es, völlig unabhängig zu bleiben, rein aus der Logik der eigenen Interessen heraus Hefte zu entwickeln.“ So entdeckt die neueste Ausgabe mit Texten von Paul Claes, Paul Bogaert oder Stefan Hertmans hierzulande wenig bekannte Literatur aus Belgien.
Wirkung und Funktion solcher Publikationen beschränken sich heute vorwiegend auf den Literaturbetrieb selbst. Für Autoren bleiben sie wichtige Probebühnen und Experimentieranstalten, für Lektoren und Talentscouts Pflanzstätten und Guckkästen. Nur sie können es sich leisten, unbekannte Autoren und experimentelle Texte zu bringen, die in Buchform chancenlos blieben, wie Birger Dölling von den Berliner Losen Blättern betont. Jene Mischkalkulation, wie sie Verlage in ihrem Gesamtprogramm vornehmen, sie findet in Literaturzeitschriften in jeder einzelnen Ausgabe statt. Damit leisten diese Periodika die „Grundlagenforschung“ der Literatur (Dölling). Weil sie auch jene Richtungen pflegen, die wirtschaftlich chancenlos, ästhetisch aber um so innovativer sind.
Dass sich dafür nach wie vor auch nicht professionelle Leser mit Lust an Entdeckungen jenseits der Bestsellerlisten begeistern lassen, dafür sind junge Zeitschriftenprojekte wie die Losen Blätter, Edit (Leipzig) oder Macondo (Bochum) schöne Beispiele. Wo andernorts Stagnation und schleichende Erosion beklagt werden, beurteilen sie die Situation überraschend optimistisch und berichten eher von steigenden Verkaufszahlen. Das Konzept der Losen Blätter etwa besticht mit konsequentem Understatement. Jedes Heft besteht aus acht gehefteten Blättern, kostet dafür aber nur 1,50 Euro. So schlicht die Form, so exquisit der Inhalt. Das aktuelle Heft 27 bringt etwa Beiträge von Kurt Drawert und Marcel Beyer. Und Aufnahmen der Fotokünstlerin Jacqueline Merz.
Darin, dass in jungen Zeitschriften wie Edit die Literatur eine enge Bindung mit Fotografie und Grafik eingeht und auch die Layout-Möglichkeiten des Mediums genutzt werden, sieht Frank Schorneck von Macondo den Hauptgrund, warum es diesen Periodika tendenziell besser geht: „Ich schätze den Erker und das Schreibheft sehr – aber vor allem wegen der inhaltlichen Arbeit, keineswegs für die Aufmachung.“ Macondo ist seit der ersten Ausgabe 1998 stetig gewachsen und wird seit zwei Jahren auch im Bahnhofsbuchhandel vertrieben, wo auch Edit zu finden ist, die für ihre Förderarbeit als „Entdeckerzeitschrift“ mit Recht viel Lob eingeheimst hat und es sich sogar leistet, alle zwei Jahre die Redaktion auszuwechseln, zwecks ästhetischer Verjüngungskur. Von den Bibliotheken sind die Zeitschriften unabhängig, müssen es auch sein. Edit wird zwar vom Harvard College und dem MoMa abonniert, aber von kaum einer deutschen Universität.
Für Publicity sorgte Macondo vor vier Jahren mit einem Literaturfestival in Bochum. Mit einer monatlichen „Lesebühne“ im Literatursalon am Berliner Kollwitzplatz will auch die neue deutsche literatur in Zukunft neue Leser gewinnen. Übrigens, man kann es noch gar nicht glauben, bald auch mit Bild- und Fotomaterial. Was die Newcomer ebenfalls in stärkerem Maße nutzen als die Traditionszeitschriften: das Internet. Dass die meisten neuen Leser heute übers Netz auf eine Zeitschrift stoßen und Exemplare bestellen, berichten zwar alle befragten Redakteure. Aber nur wenige wie Edit, Macondo oder die in München erscheinende Neue Sirene präsentieren sich mit wirklich neugierig machenden Webauftritten. Oder schalten wie das Schreibheft Webanzeigen etwa im Perlentaucher oder in Foren wie literaturkritik.de, um die Zielgruppe relativ kostengünstig auf sich aufmerksam zu machen. Späte Einsichten: „Heutzutage muss man ein Abonnement per Mausklick aufnehmen können“, klagt Jürgen Engler mit Blick auf die Versäumnisse des Aufbau Verlags in der Vergangenheit.
Warum dann nicht auch mit den Texten ins Netz abwandern? Kostengünstiger kann man nicht publizieren und leichter das Publikum erreichen auch nicht. Schließlich berichten reine Internet-Literaturzeitschriften wie Titel oder das Literaturcafé, freilich alles Projekte, die keine High-brow-Literatur bieten oder gar wie literature.de eher den Charakter von Selbsthilfegruppen haben, von sagenhaften Zugriffszahlen, bei Titel sollen es 30.000 in der Woche von 9.000 verschiedenen Rechnern aus sein. Welcher realen Leserzahl das auch immer entsprechen mag – wer glaubt, es gäbe kein literaturinteressiertes Publikum mehr, sollte mal ins Netz schauen. Im „Anfixen von neuen Leserschichten“ sieht Karsten Herrmann von Titel eine Hauptfunktion solcher Online-Projekte. Vor einem Verlust der sinnlichen Lesequalitäten muss man sich nicht fürchten, wie das Beispiel Alien Contact zeigt. Das anspruchsvollste deutsche Science-Fiction-Magazin stellt seit einiger Zeit seine neuen Ausgaben kostensparend zuerst online, um sie dann am Ende des Jahres in einer Printausgabe zusammenzufassen, die mehr Käufer als zuvor findet. Derartige Kombinationen von Print- und Onlineausgaben könnten ein Erfolgsmodell für die Zukunft sein.
Stellen doch auch die Losen Blätter ihre Ausgaben erst als pdf-Volltextdateien ins Netz, was laut Birger Dölling „den Wunsch der Leser, das Heft in gedruckter, fühl- und greifbarer Form in Händen zu halten, nicht mindert, sondern fördert“. Im letzten Jahr hat sich die Zahl ihrer Abonnenten glatt verdoppelt. Reservierter zeigen sich dagegen die Redakteure der Traditionszeitschriften. Während Norbert Wehr vom Schreibheft oder Susanne Reichlin von den Schweizer Entwürfen vermuten, dass es vorwiegend die eigenen Autoren seien, die solche Internet-Organe nutzen, gibt es für Thomas Geiger den „publizierenden Astralleib“ noch nicht.