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Archiv-Artikel

Ohne Gespür für Menschen

Der Regierungschef wird heute 60 Jahre alt. Er begreift Politik gänzlich personal, und in diesem Jahr spielt er sein größtes Spiel. Wie wird es enden? Wir dokumentieren das Geburtstagsecho der Presse

„Seine Laufbahn ist zuerst der Triumph einer außerordentlichen Fähigkeit, auch in widrigsten Lagen nicht aufzugeben. Glanz verströmt das nicht, und bei jenen, die Politik an den Kategorien des Schönen, Guten und Wahren messen, gilt er deshalb schon längst als hoffnungslos durchgefallen.

Diese irritierende Stellung im politischen Gelände verdankt sich vermutlich dem Umstand, dass die Stärken des Kanzlers tatsächlich ziemlich genau in dem bestehen, was ihm seine Kritiker mit nimmermüder Erbitterung als Schwächen ankreiden. Dass er Politik gänzlich personal begreift, sich bis zur Banalität hin als Statthalter des gesunden Menschenverstandes versteht und unbeirrbar dem Glauben anhängt, alle Probleme seien lösbar, wenn man mit beiden Füßen fest auf dem Boden steht.

Darin ist ebenso die Geringschätzung begründet, auf die er bei seinen Kritikern abonniert ist, wie die fulminante politische Mobilisierungskraft, die er immer wieder zu entfesseln vermag.

Wie aussichtslos die Lage immer war, wie von allen guten Geistern er auch zu agieren schien: Schließlich ist bis jetzt stets eher seine Kalkulation aufgegangen. Es waren Siege, deren viele nicht froh wurden, weil sie oft genug mit geradezu monumentaler Unbeirrbarkeit errungen wurden. Aber es waren Siege. Dass er auch in diesem Jahr, in dem er als Politiker sein größtes Spiel spielt, am Ende vorn liegen wird, ist im Moment eher wahrscheinlich.“ Süddeutsche Zeitung

„Der Kanzler gilt als ein Mensch, dem es am wohlsten sei, wenn er viele Leute um sich habe. Daran ist nur richtig, dass er mit Gesellschaften, großen wie kleinen, umzugehen versteht. Doch das gesellige Wesen ist mehr Schein als Wirklichkeit. In Wahrheit verbringt der Kanzler seine Stunden am liebsten allein oder in der Gegenwart von Menschen, die ihm ganz nahe stehen – das sind außer der Familie keine zehn.

Seine leichte Hand im Umgang mit Menschen hat lange Zeit die professionellen Beobachter in der Ansicht bestärkt, der Kanzler habe auch eine unfehlbare Hand beim Aussuchen seiner Mitarbeiter, überhaupt in der Personalpolitik. Doch nach einigen auffälligen Fehlbesetzungen wurde immer mehr mit dem Unterton des Zweifels gefragt, wo denn sein Gespür für Menschen geblieben sei.

Doch es ist wiederum verfehlt zu glauben, dass der Kanzler über dem Persönlichen zuweilen das Programmatische aus den Augen verliere. Er ist kein Programmtüftler und schon gar nicht ein Ideologe. Seine politischen Überzeugungen lassen sich mit wenigen Kennworten umschreiben. Er besitzt eine Hartnäckigkeit, der viele unterliegen, weil sie von ihr nichts geahnt hatten.

Der Kanzler hat sich manchmal vertan, in der Person, in der Sache und in der Form. Aber unvergleichlich mehr irrten die, welche ihn als ein politisches Leichtgewicht hinstellten. Dieser Mann hat viel erreicht. Es bedurfte großer Kraft für einen Kanzler, sich den im Gewande der Unschuld auftretenden Egoismen entgegenzustellen.“ FAZ

„Was tun, wenn ein SPDist den parlamentarischen Frieden stört? Dann kommt die schlechte Laune zurück, der Fluch, der über jedem Kanzler liegt. Sie hat Helmut Schmidt das Amt gekostet und Willy Brandt die Familie. Das bringt der Beruf so mit sich.

Schlechte Laune vertieft seine Falten und rötet das Gesicht. Die Lippen werden schmal, seine Mundwinkel zieht es nach unten. Dann fasst er den Feind ins Auge, ausdauernd, gnadenlos. Andere Waffen hat auch ein Kanzler nicht zur Hand. Er muss sich ans Protokoll halten, wird immerzu von Kameraleuten, Koalitionären und dem Personal fremdbestimmt. Das frustet. Richtig prügeln darf sich der Mann schon seit 40 Jahren nicht mehr – damals beschloss er, unser Kanzler zu werden.

Immer nur lächeln, immer vergnügt. So will es das verehrte Publikum, meistens jedenfalls. Lächeln signalisiert Optimismus, Lebensfreude, Tatkraft. Wer möchte nicht von einem solchen Mann regiert werden? Lächeln ist die Maske der Mächtigen – nur leider: Jeder durchschaut die Tarnung. Echtes und nur gespieltes Lächeln kann der Mensch intuitiv auseinander halten, und das echte Lächeln lässt sich nur von hochbegabten Schauspielern lernen.“ Der Spiegel

„Was fehlt: Die Glückwünsche der taz zum 60. Geburtstag des Bundeskanzlers.“ taz

AUSWAHL: RALPH BOLLMANN

Sämtliche Zitate sind den Zeitungsausgaben vom 3. April 1990 entnommen. Sie beziehen sich auf den 60. Geburtstag des damaligen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl (CDU)