: Vom Missionar und seinem Heiden
VON SHI MING
Viele Menschen im Westen verlangen, China solle sich demokratisieren. Doch zugleich kommt es in diesem Westen, an erster Stelle in den USA, zu immer mehr Einschränkungen der Bürgerrechte und damit auch der Demokratie. Inwieweit lässt sich da die Hoffnung begründen, in China werde eine Demokratisierung nach westlichem Muster funktionieren und das Land eine – wie auch immer geartete – Rolle in der Welt spielen?
Der Westen kann diese Frage weder übergehen, noch kann er sich aus der Verantwortung stehlen und den Blick einseitig auf China richten. Ist etwa die westliche Forderung nach Eindämmung der in China grassierenden Korruption ernst zu nehmen, wenn es nicht selten gerade westliche Konzerne sind, die dort munter schmieren? Kann man denn im Zeitalter globalisierter Märkte ernsthaft auf mehr Transparenz in China hoffen und gleichzeitig von den Korruptionspraktiken an allen westlichen Weltbörsen absehen?
Die Frage erweitert sich, wenn man globale Probleme wie Energieknappheit oder Umweltzerstörung mit einbezieht. Gerade hat der Nationale Volkskongress eingeräumt, dass das schnelle Wirtschaftswachstum Chinas allein mit äußerst energieintensiven Mitteln erreicht worden sei. Das Land stoße bereits jetzt an die Grenzen der Entwicklung.
War nicht zuvor im Westen bereits die Sorge artikuliert worden: Wenn jeder Chinese Auto fahren will, gibt es in der Welt bald keinen Tropfen Öl mehr für alle anderen. Die Zahlen scheinen dies zu bestätigen: China plant für dieses Jahr den Import von 100 Millionen Tonnen Rohöl. Spätestens 2008 wird China bei der Abhängigkeit von Erdöl Japan hinter sich lassen. Doch Europas Politik schweigt, derweil eine unweigerliche Zuspitzung der Öl- und Gasknappheit droht, mitsamt unvorhersehbaren Folgen für die Geopolitik.
Immer weniger Getreide
Durch Pekings Beitritt zur Welthandelsorganisation ist Chinas Landwirtschaft, sind mit ihr 900 Millionen Menschen in ländlichen Regionen der mörderischen Konkurrenz auf dem Weltgetreidemarkt ausgesetzt. Laut US-Prognosen nimmt die genutzte Anbaufläche in China drastisch ab, und mit ihr die Ernteerträge. Es gibt Schätzungen, dass die staatlichen Getreidevorräte in nur drei Jahren aufgebraucht sind. Wenn die Volksrepublik auf dem Weltmarkt massiv einkauft, würde dies die Preise so in die Höhe treiben, dass dringend hilfsbedürftige Länder nicht mithalten können. Ein anderes Szenario ist schon jetzt Wirklichkeit geworden: Die Preisinflation bei Lebensmitteln trifft die breite Unterschicht zuerst. Vielerorts sind die Preise in wenigen Monaten um bis zu 50 Prozent gestiegen. Zugleich weigert sich der Westen, darunter europäische Staaten, staatliche Subventionen für die Landwirtschaft abzubauen. Bis zu 200 Millionen chinesische Bauern könnten ihre Arbeit verlieren.
All diese Beispiele zeigen, dass sich das kulturelle, gesellschaftliche und politische Modell des Westens inzwischen auch in China breit macht. Wenn sich dieselben Modelle jedoch gleichzeitig in einem Prozess unablässiger Transformation befinden, welche Rolle kann sich der Westen dann für sich selbst und für China wünschen? In welcher Art von Weltordnung oder Weltunordnung möchte er leben?
Dass sich der Westen seiner selbst ungewiss wird, ist symptomatisch. Nach dem 11. September haben sich die USA so sehr verändert wie kaum je seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Der Anspruch, ein Weltimperium zu errichten, relativierte sich ebenso wie der Glaube an die ökonomische Überlegenheit.
Zeichen für den Sinneswandel bieten sich reichlich. Nun wetteifern beiderseits des Atlantiks Politiker darum, das Outsourcing von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer mit dem Hinweis auf den nötigen Patriotismus zu bekämpfen. Der Unterschied: In den USA richtet sich der Zeigefinger auf China, im Euroland auf Ungarn oder die Slowakei.
Die eigentliche Sorge hüben wie drüben aber lautet: Kann die viel gelobte Verschiebung westlicher Ökonomien aus primären und sekundären Bereichen in den Dienstleistungssektor für den Erhalt des Wohlstands sorgen? Kann das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften als „Informations- und Dienstleistungsgesellschaften“ bestehen?
Ein weiteres Zeichen des Wandels in gesättigten Wohlstandsländern: McDonald’s und Coca-Cola sind Aushängeschilder der amerikanischen Massenkultur, die überall in der Welt mit einer vereinfachten Formel zelebriert wird: je mehr McDonald’s-Niederlassungen in einem Land der Dritten Welt, desto größer gilt dessen Öffnung hin zum progressiven Westen. Doch gerade McDonald’s und Coca-Cola müssen nun Federn lassen: Da es um die allgemeine medizinische Versorgung in den USA immer schlechter bestellt ist, sollen die immer dicker werdenden Amerikaner endlich abnehmen, fett- und kalorienärmer essen und sich weniger therapieren lassen.
In Europa hat die wachsende Ungewissheit mit der Entwicklung der europäischen Einheit und der Suche nach einer europäischen Identität zu tun. Altbewährte nationale Traditionen müssen neuen, noch unausgeformten Modellen weichen. Die Zukunft der nationalstaatlichen Souveränität sorgt für Ungewissheit, die sich zuletzt beim Streit um die europäische Verfassung manifestierte.
Nur zu verständlich, dass es für ein Europa im Wandel schwieriger ist, sich die zukünftige Rolle eines sich ebenso in der Transformation befindlichen Chinas vorzustellen. Soll China ein Gegengewicht zu den USA bilden? Eine Symbiose von Supermarkt und Supermacht? Oder als Käufer westlicher Neuentwicklungen, die sich im eigenen Land nicht durchgesetzt haben, wie sich am Beispiel des deutschen Transrapid in Schanghai zeigt?
Gegengewicht zu den USA?
Die Ungewissheiten Europas mögen deprimierend und verwirrend anmuten. Die Angst, Europa büße eines Tages einem aufstrebenden China gegenüber an Attraktion ein, ja, China könnte Europa sogar ökonomisch den Rang ablaufen, diese Angst treibt viele Europäer um. Daher hoffen sie, dass China keine Rolle spielen wird, die für Europa gefährlich werden kann.
Diesem Europa im Umbruch sollte man klarmachen: Gerade in der Unsicherheit des Westens liegt eine Chance, die Chance eines ebenbürtigen Dialogs, bei dem sich Europa und China nicht länger in ihren bisherigen Rollen als Missionar und Heide begegnen. Europa und China würden sich nicht mehr in einem, wie Mao Tse-tung einst schrieb, Lehrmeister-Lehrlings-Verhältnis gegenüberstehen, in dem, so Mao, der Lehrmeister stets darauf bedacht ist, den Lehrling zu demütigen.
Doch wie sehen die Chinesen selbst ihre künftige Rolle in der Welt? In Amerika, zumal unter den Überseechinesen, ist seit langem die Diskussion im Gange: Wird China im- oder explodieren, wird es unbedeutend sein oder eine Weltmacht? So kündigt sich auch dort eine wachsende Ungewissheit an, über sich selbst und über die sich schnell verändernde Welt, und mit Letzterer ist die Welt des Westens gemeint.
Im Irakkrieg entlud sich diese Ungewissheit auf Chinas Internetseiten in bisweilen kuriosen Auswüchsen: „Wenn die Amerikaner morgen zur Befreiung nach China kommen, bin ich der erste, der kapituliert“, schrieb einer. China müsse sich zur Festung hochrüsten, sofort, auf niemanden sonst sei Verlass, auf Japan nicht, auf Kanada nicht, schwor ein anderer. Merkwürdig nur: In ihrem Aufschrei über ein angeblich bevorstehendes apokalyptisches Weltereignis vergaßen die Kontrahenten einen Weltkontinent ganz: Europa.
Kein Ideologieexport
Kann China sich auf Europa verlassen? Und wenn ja, als was? Als Lieferant von Einzelteilen, von teueren Autos bis hin zur Hanauer Anlage? Auf Werbetransparenten könnte womöglich auch ein Fußbodenbelag aus Deutschland prangen. Beim Gedanken an Schöner Wohnen schwebt jedoch der zahlungskräftigen Oberschicht in Peking oder Schanghai ein amerikanisches Stadthaus vor. Eines steht fest: Europa ist für China und die Chinesen nicht länger Gegenwelt noch Projektionswand. Europa bietet keine Systemlösung mehr. Europa und die Europäer sind wieder auf dem Boden der Normalität angelangt – eben so normal wie China und die Chinesen ängstlich und hoffnungsvoll zugleich, ungewiss über die Zukunft, auf der Suche nach neuen Identitäten, die so oder so in ein Verhältnis zu alten Traditionen gebracht werden müssen.
Was hat der veränderte Blick der Chinesen auf die Welt, auf den Westen, auf Europa mit der Frage zu tun, welche Rolle China in einer zukünftigen Welt spielen wird? Wie wäre es mit der Antwort, China und die Chinesen als Dialogpartner zu begreifen, mit denen gestritten, an denen kritisiert, gegen die protestiert werden kann, wenn Menschenrechte mit den Füßen getreten werden. Aber bitte dem Land und seinen Leuten nicht länger das Blaue vom Himmel versprechen. Nicht mehr vorgaukeln, der Westen sei im Besitz von Patentrezepten für alle Weltprobleme. Europa sollte nicht vergessen, dass seine ideologischen, Welterlösung verheißenden Exporte in China großes Unheil angerichtet haben: Sozialdarwinismus, Marxismus bis hin zum Manchesterkapitalismus. Es ist freilich auch Europa, das sich im Gegensatz zu den USA mit einem Gegenmittel zu kurieren sucht, etwa mit der kommunikativen Vernunft frei nach Jürgen Habermas. Partnerschaftlicher Dialog als Exportartikel, das wäre doch was.