berliner ökonomie
: Faust in der Lausitz

Bisher war da erst das Sein, und dann kam das Bewusstsein. So war es etwa bei der Abwicklung der DDR-Kombinate Orwo, Narva oder der Kaligrube Bischofferode, die Rolf Hochhuth 1994 zu dem Drama „Wessis in Weimar“ motivierten. Ähnliches geschah dann auch mit den unseligen Privatisierungen der Treuhandanstalt, die Günter Grass 1995 zu seinem Roman „Ein weites Feld“ inspirierten. Da von der Treuhand vor allem die Unternehmensberater profitiert hatten und diese dann als Berater der neoliberal gewordenen SPD weitermachten, schrieb Hochhuth jüngst ein zweites Drama: „McKinsey kommt“.

Aber nun dreht sich die Sache langsam um: In der Lausitz gibt es ein kleines sorbisches Dorf, Horno, das den Braunkohlebaggern des in Berlin ansässigen Konzerns Vattenfall weichen soll. Nach 20-jährigem Widerstand gaben die Hornoer auf und ließen sich umsiedeln – bis auf drei Bewohner: das alte Ehepaar Domain und ihr Mieter Michael Gromm. Erstere bewirtschaften einen großen Garten, und Letzterer besitzt dort ein kleines Grundstück mit drei Ahornbäumen. Sie schlugen alle Ablösesummen von Vattenfall aus und beschritten stattdessen den Klageweg. Aber noch bevor dieser beim Schlichter – dem Landesbergamt in Cottbus – entschieden war, schufen die Abrisskolonnen von Vattenfall vollendete Tatsachen, indem sie das Dorf niedermachten. Als der Vattenfall-Förster mit einem Polizisten und zwei Arbeitern auch noch Hand an die drei Bäume von Gromm legen wollte, versuchte dieser, sie mit einer einstweiligen Verfügung zu stoppen. Der Cottbusser Richter meinte jedoch, er hätte übers Wochenende einen Artikel über Horno gelesen und dort würde ja schon alles abgebaggert werden: Was solle da dieser Streit jetzt noch? Als Nächstes bekam Gromm eine Antwort von Vattenfall auf sein Protestschreiben an das Landesbergamt. Es ist darin vom Abbaggern des „Gromm-Dreiecks“ nach Plan die Rede, weswegen es spätestens bis zum 15. 11. 2005 enteignet sein müsse, auch wenn wider Erwarten dem Bagger am Hornoer Berg noch jede Menge Steine in den Weg gelegt werden. Gemeint sind damit eiszeitliche Findlinge, die jedes Mal zu empfindlichen Ausfallzeiten führen.

Auch das Ehepaar Domain und ihr Mieter Gromm sind dem Braunkohlebagger im Weg. Da das Dorf derzeit zudem von Plünderern aus nah und fern heimgesucht wird und der Vattenfall-Wachschutz anscheinend nichts dagegen tun kann oder will, befürchtet ihr Unterstützerkreis bereits das Schlimmste – und erinnert sich an ein bereits vor langer Zeit veröffentlichtes Drama.

Zu der Zeit wurde in Weimar gerade „Faust 2“ aufgeführt. Der zuständige Wessi-Regisseur ließ darin die letzten Opfer des Teufelspakts, Philemon und Baucis, als „zwei lamentierende Ost-Rentner“ auftreten. In Goethes Originalfassung ist es ein altes Ehepaar, das einen jungen Wanderer bei sich aufgenommen hat: Unglücklicherweise steht ihr Haus samt Lindenhain einem faustischen Großeingriff in die Landschaft im Wege – d. h. nicht direkt im Weg, aber das Anwesen stört Fausts Aussicht auf seinen „gradgeführten Kanal“ und dessen künstliche Uferlandschaft. Er will sie deswegen umsetzen lassen: „Da seh ich auch die neue Wohnung, / Die jenes alte Paar umschließt, / Das, im Gefühl großmütiger Schonung, / Der späten Tage froh genießt.“

Die beiden Alten und ihr neuer Mieter wollen jedoch nicht weichen. Faust ruft ärgerlich nach Mephisto, der sogleich seine dreiköpfige Schlägerbande mitbringt. Bereits nach kurzer Zeit können sie stolz dem Umsetzungsauftraggeber Vollzug melden, wenn auch etwas zerknirscht: „Verzeiht! es ging nicht gütlich ab. / Wir klopften an, wir pochten an, / Und immer ward nicht aufgetan …“

Um es kurz zu machen: Sie zündeten dem Rentnerehepaar einfach die Hütte an. Dieses fiel, ohnmächtig, den Flammen zum Opfer, während der junge Wanderer sich zur Wehr setzte, weswegen sie ihn niederstachen. Faust verflucht das Mordkommando und schreit: „Tausch wollt ich, wollte keinen Raub.“

Der Chor, die Bild-Zeitung, antwortet: „Das alte Wort, das Wort erschallt: / Gehorche willig der Gewalt! / Und bist du kühn, und hältst du Stich, / So wage Haus und Hof und – dich.“ Um Mitternacht hebt darob eine große faustische Selbstkritik an, die mit seinem Tod in den Armen der Lemuren und einem letzten utopischen Ausblick auf ein lebendiges Gemeinwesen endet: „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, / Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.“ Aus diesem Zweizeiler machte die DDR später übrigens eine in Stein gemeißelte Losung für ihr sozialistisches Aufbauprogramm in der Berliner Karl-Marx-Allee. Aber das führt zu weit …

Dann müsste man auch noch erwähnen, was der Betriebsrat der Kalikumpel in Bischofferode quasi am Schluss ihres Widerstands gegen die Schließung der Grube meinte: „Es sieht nicht gut aus. Das ist hier ein so genanntes Drama!“ Dabei starben übrigens vier Bergarbeiter. HELMUT HÖGE