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Archiv-Artikel

„Tibet weitet den Markt radikal aus“

Wang Hui, 49, Vordenker der „Neuen Linken“ in China, kritisiert die Regierungspolitik der KP – und nimmt sie in Schutz: vor falschen Vorstellungen des Westens von Tibet. Vor den Ängsten des Westens gegenüber der kapitalistischen Supermacht. Er sagt: Chinas Stärke bringt der Welt mehr Gerechtigkeit

WANG HUI

Geboren: 1959 in Yangzhou in der Provinz Jiangsu unweit von Schanghai.

Ist: Ende der 90er-Jahre Begründer der „Neuen Linken“ in China. Von 1996 bis 2007 Herausgeber von Dushu, einer der einflussreichsten Intellektuellenzeitschriften Chinas. Als einer der Ersten kritisiert er das rein marktwirtschaftliche Denken der kommunistischen Reformpolitik, verweist auf Bauern und Arbeiter als Verlierer der Reformen, kritisiert die Umweltzerstörung und analysiert die Zwänge der Globalisierung, ohne sie pauschal zu kritisieren. Seine Ideen werden nach dem Sars-Schock 2003 mehrheitsfähig. Verliert den Herausgeberjob trotzdem – wohl weil er seine Kritik an der Regierungspolitik nie eingestellt hat. Sein Hauptwerk: „Entstehung des modernen Denkens in China“ (2004). Im Mai zählt ihn die US-Zeitschrift Foreign Policy zu den „hundert einflussreichsten Intellektuellen der Welt“.

Zum Gespräch empfängt Hui taz-China-Korrespondent Georg Blume in seiner Drei-Zimmer-Professorenwohnung auf dem Gelände der Pekinger Tsinghua-Universität. Er hat selbst gekocht – klare Hühnersuppe. Fleisch und Reis reicht er getrennt. Dazu öffnet er eine Flasche australischen Rotwein. Während des Gesprächs steht er wiederholt auf und gießt Teewasser nach.

Interview Georg Blume

taz: Zu Weihnachten suchen viele im Westen nach dem Guten und Gerechten. Dabei denkt man auch an den Dalai Lama. Er verkörpert für viele Westler das Gute und Gerechte in China. Können Sie das nachvollziehen, Herr Hui?

Wang Hui: Es gibt keinen Zweifel, dass der Dalai Lama eine wichtige geistliche Führungsfigur ist. Sein Amt genoss immer den Respekt des tibetischen Volkes. Seit über 150 Jahren flößt es auch dem Westen Respekt ein. Doch schon seit dem 18. Jahrhundert war die Funktion des Dalai Lamas sowohl eine religiöse als auch eine politische. Im Westen sieht man heute wie früher vornehmlich seine religiöse Rolle. Das erklärt die Bewunderung für ihn. Im chinesischen Kontext tritt seine politische Rolle stärker hervor. Kein Chinese hat vergessen, dass er bei seiner Flucht ins Exil 1959 eng mit dem CIA zusammenarbeitete.

Von Angela Merkel über Manuel Barroso bis Nicolas Sarkozy – kein europäischer Politiker versäumt es, sich an Seiten des Dalai Lamas gegen Peking in Stellung zu bringen. Warum?

Die Tibet-Frage wird heute auch auf höchster politischer Ebene sehr emotional gehandhabt. Das ist wenig hilfreich und trägt nicht zur Beilegung des Konflikts bei. Wer dagegen wirklich nach einer Lösung für Tibet sucht, muss sich zunächst des völlig unterschiedlichen Grundverständnisses der verschiedenen Seiten bewusst werden. In Europa gibt es eine lange Tradition des Tibet-Wissens. Doch dieses oft tiefschürfende Wissen ist selbst Ausdruck europäischer Kultur. Da stehen uns nicht nur ein paar oberflächliche Missverständnisse im Wege.

Sie meinen, die westliche Welt hat Tibet schon immer falsch verstanden?

Nicht falsch, aber eben auf seine Art. Es ging dabei von Beginn an um die Frage der Religion. Tibet war ab dem frühen 19. Jahrhundert ein Gesprächsthema unter europäischen Intellektuellen, weil man Ähnlichkeiten zwischen der tibetischen und der katholischen Religion sah. Hegel und viele andere übten deshalb starke Kritik an Tibet. Andere aber verteidigten schon damals die tibetische Religion, weil sie als einziger nichtwestlicher Glaube starke Parallelen zum Christentum aufzuweisen schien.

Jürgen Habermas erkennt im Buddhismus bis heute eine nichtwestliche Religion mit universalistischen Zügen.

Auch das ist ein Beispiel dafür, wie tief der Buddhismus und Tibet im westlichen Weltbild verankert sind. Wenn wir also über Tibet reden, müssen wir dabei auch über das Selbstverständnis Europas reden.

Sie unterstellen, dass Europa seine eigenen Vorstellungen auf Tibet projiziert.

Seit dem 19. Jahrhundert kamen viele westliche Missionare nach Tibet. Schon sie suchten nach den Wurzeln einer indogermanischen Kultur. Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die Missionare von europäischen Wissenschaftlern abgelöst, die nach dem Ursprung der arischen Rasse forschten. Europäische Sprachhistoriker behaupteten damals fälschlich, dass die tibetische Sprache Teil eines indischen Systems sei. Die Tradition solcher Fehleinschätzungen ist lang. Auch die Nazis mischten mit. Es gab das berühmte „Arische Seminar“ an der Universität Tübingen, das sich auch der Tibetforschung widmete.

Glauben Sie etwa, dass sich das heutige Tibet-Interesse im Westen mit dem Tibet-Interesse der Nazis deckt?

Natürlich nicht. Ich sage nicht, dass heutige Sichtweisen sich monokausal historisch erklären lassen. Aber das historisch Unbewusste spielt trotzdem eine Rolle. Fast sämtliche westliche Tibet-Studien konzentrierten sich in der Vergangenheit auf die tibetische Religion und Kunst. Die Realität Tibets, alles von der Sprache über die Wirtschaft bis zum Erziehungswesen, kam dabei kaum vor.

Und das hat sich bis heute nicht geändert?

So sehe ich es. Tibet ist viel komplizierter, als es das religiös geprägte Wissen des Westens über Tibet nahelegt.

Also verstehen nur die Chinesen, wie kompliziert Tibet wirklich ist?

Nein. Denn auch die Chinesen lassen sich vom Westen beeinflussen. Auch sie vergeistigen heute Tibet und neigen deshalb zur Überbetonung des Religiösen in Tibet, das sie dann als Gegensatz zum eigenen säkularen Staat empfinden. Das hilft beim gegenseitigen Verständnis natürlich auch nicht weiter.

Sehen sich die Chinesen heute trotzdem mit den Tibetern als eine Nation?

China ist ein multiethnisches Land. Jeder weiß das und es mag in der Welt viele multiethnische Länder geben. Aber es wird im Westen immer noch unterschätzt, wie stark China ethnisch gemischt ist und wie stark sich das im Bewusstsein der Chinesen eingeprägt hat.

Aber China und Tibet sind mehr als nur zwei Ethnien, es sind aus westlicher Sicht zwei verschiedene Zivilisationen. Wie können sie in einer Nation zusammenleben?

Das ist wohl besonders für das kleinstaatliche Europa schwer zu verstehen. Aber schon während der Tang-Dynastie vom 6. bis 9. Jahrhundert hatte Tibet ein sehr expansives Regime, das weite Gebiete eroberte. Tibet konnte sich aus geografischen Gründen nur ostwärts nach China ausdehnen. Deswegen wurden die heutigen chinesischen Provinzen Qinghai, Sichuan und Gansu damals tibetisch. Von dieser Zeit an penetrierten sich die beiden Zivilisationen gegenseitig. Doch nur wenige wollen das heute wissen.

Aber sind die Zerwürfnisse zwischen Chinesen und Tibetern jüngeren Datums – beispielsweise die Zerstörungen der tibetischen Klöster während der Kulturrevolution – nicht viel aussagekräftiger für das gegenseitige Verhältnis?

Die wirklich einschneidende Entwicklung fand lange nach Ende der Kulturrevolution ab den späten 80er-Jahren statt: Seither bedingen sich die radikale Ausweitung des Marktes und die radikale Ausweitung der Religion in Tibet gegenseitig. Wir dürfen die Frage der Religion in Tibet eben nicht nur als Frage der Religionsfreiheit begreifen. Tibet ist vielmehr eine tiefreligiöse Gesellschaft, die statt einer Säkularisierung heute ein Wiedererstarken der Religion erlebt – mit Hilfe des Marktes. Viele junge Tibeter gehen heute wieder in die Tempel und werden Lamas, weil es der sicherste und angesehenste Beruf in der religiösen Gesellschaft ist. Das ist ein neues Phänomen. Ich will darüber nicht urteilen. Aber daran wird deutlich, dass Tibets drängendstes Problem nicht die Religionsfreiheit ist. Nur die säkulare Sichtweise des Westens will das so sehen.

Wo läge denn die Alternative für Tibet? Mehr KP?

Seit 1959 stellt die KP in Tibet die Regierung. Damals wurden zum ersten Mal Religion und Staat in Tibet voneinander getrennt. Diese Trennung aber steht heute längst wieder zur Diskussion, weil die Tempel einen Großteil ihrer Macht im Alltag und in der Wirtschaft zurückgewonnen haben. Überall findet eine Rekonstruktion der Tempel statt. Ihnen fließen viele Gelder zu.

Ist das nicht in Ihrem Sinn?

Die Expansion der Religion ist auch in Tibet nicht gleichbedeutend mit einem Zuwachs an Gerechtigkeit. Man muss sich in China nur umschauen. Überall boomt die Religion, zugleich wächst der Graben zwischen Arm und Reich.

Was aber ist dann China: ein Beispiel für die Zu- oder Abnahme an Gerechtigkeit?

Das müssen Sie Indonesier und Afrikaner fragen. Sie glauben heute, die Chinesen hätten es geschafft. Westler dagegen neigen dazu, China als Bedrohung für die soziale Gerechtigkeit im eigenen Land zu sehen. Dabei scheint ihnen jeder Sinn für die reale Arbeitsteilung auf der Welt abhandengekommen zu sein. Sie sollten wirklich mehr mit der Dritten Welt über den Aufstieg Chinas sprechen. Dann würden sie spüren, wie viel Hoffnungen auf mehr Gerechtigkeit sich heute an China knüpfen.

Ist China etwa nicht roher Kapitalismus?

China agiert nicht als selbstbestimmte Großmacht. China wird vielmehr vom Prozess der Globalisierung angeschoben. Erinnern Sie sich an die Asienkrise 1997? Wer waren damals die Akteure? Nicht die asiatischen Völker, nicht das chinesische Volk. Trotzdem schoben sie sich gegenseitig die Schuld an der Krise zu. Sie sahen nicht das Gesamtbild und die Verantwortung der westlichen Spekulanten.

Ist das in der jetzigen Krise anders?

Nicht wirklich. Seit vergangenem Jahr gibt es in China ein neues Arbeitsvertragsrecht, das Arbeitern mehr Rechte gegenüber ihren Arbeitgebern einräumt. Aber jetzt steht das neue Gesetz aufgrund der Krise in der Kritik. Man glaubt, das Gesetz zwinge die Firmen, mehr Arbeiter zu entlassen. Erneut verkennt man die Verantwortlichen der Krise.

Das neue Gesetz erschien bisher als Beweis, dass den arbeitenden Massen in China allmählich doch neue Rechte zuwachsen. War das eine Illusion?

„Es wird im Westen immer noch unterschätzt, wie stark China ethnisch gemischt ist und wie stark sich das im Bewusstsein der Chinesen eingeprägt hat“

Schon Hegel sagte, dass der Sklave mehr von der Welt versteht als sein Meister, weil er arbeitet. Viele chinesische Arbeiter haben deshalb verstanden, wie sehr sich ihre Lage in den letzten Jahren verbessert hat. Sie wissen, dass es heute in China kaum noch Billigarbeit gibt, dafür aber in Vietnam und Indonesien, wohin viele chinesische Fabriken verlagert werden. Einige in China sagen, das sei eine schlechte Sache, aber andere wissen, dass es anderen Ländern die Chance bietet, die man eben selbst noch nutzte. Sie wissen auch, dass es besser für eine ausgeglichene globale Wirtschaftsstruktur ist, wenn sich die Arbeit immer wieder neu verteilt.

China hat als Antwort auf die Krise ein riesiges Konjunkturprogramm aufgelegt. Wird man damit soziale Gegensätze überbrücken können?

Man wird viel in den Wiederaufbau nach dem Erdbeben in Sichuan investieren, außerdem in die Infrastruktur, den sozialen Wohnungsbau und das Transportwesen. Weniger Geld fließt ins Erziehungswesen und in die Krankenversorgung. Hier aber sollte man langfristig mehr investieren. Doch es fehlt der öffentliche Druck. Wir haben nicht genug öffentliche Debatten, nicht im Volkskongress, nicht in den Medien, wie man die Gelder am besten ausgibt. Das erschwert am Ende auch die Umsetzung der Projekte – weil keiner sie ausreichend kontrolliert.

Hat China jetzt nicht die ganz große Chance, einen ökologischen New Deal vorzulegen?

Das Problem ist doch, dass sich jetzt jeder Beamte wieder unter dem Druck fühlt, die Wirtschaft zu beleben. Dabei müssen wir unsere ganze Entwicklungsstrategie samt der Minderheitenpolitik völlig neu überdenken. Wenn aber die westlichen Länder heute wirklich Interesse an mehr Gerechtigkeit in China hätten, dann müssten sie jetzt Schritt für Schritt bei der Umsetzung des Konjunkturprogrammes mit China zusammenarbeiten. Weil gerade die Bewältigung der umwelt- und sozialpolitischen Herausforderungen in China letztlich die ganze Welt betrifft. Eine solche Zusammenarbeit wäre dringend nötig. Stattdessen kümmert sich ein Herr Sarkozy lieber um den Dalai Lama – für das politische Showgeschäft.

Wie viel Druck für mehr soziale Gerechtigkeit kommt in China von unten?

Besonders in diesem Jahr gab es mehr Proteste als sonst. Sie waren gewalttätig, besser organisiert und effizienter als früher. Das verlangt natürlich nach anderen politischen Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung. Wir müssen diese Proteste legalisieren.

Sie fordern neue, freie Gewerkschaften?

Ob neu oder nicht neu: die Gewerkschaften müssen unabhängig sein. Die Arbeiter müssen ihre Vertreter selbst bestimmen können.

Wird die KP so viel Macht abgeben?

In der liberalen Reformperiode war die Schwäche der Regierung auch in China die größte Gefahr. Jetzt, nach der liberalen Ära, aber wird die größte Gefahr wieder der Machtmissbrauch durch die Regierung sein.