Blinde werden sehen!

Jordis Antonia Schlösser, 1967 in Göttingen geboren, studierte Soziologie und Ethnologie in Köln, bevor sie 1988 ihr Fotostudium an der FH in Dortmund bei Arno Fischer begann. Seit 1997 ist sie Mitglied der Fotografenagentur Ostkreuz. Auslandsaufträge und freie Projekte führten sie in den Mittleren Osten, nach Westafrika und Kuba, in die Karibik, nach Kanada und Australien sowie in nahezu sämtliche Länder Europas. Ihre Bilder wurden unter anderem in Geo, National Geographic und dem Spiegel veröffentlicht. 2001 erhielt sie den zweiten Preis des World Press Photo in der Kategorie „The Arts“ und 2002 den Hansel-Mieth-Preis für ihr Projekt „Vor dem Verschwinden – Bericht aus dem niederrheinischen Braunkohlerevier“. In ihrer Arbeit „Abschied von gestern“, die gerade in Bordeaux zu sehen ist, geht es ihr darum, neben den Veränderungen in der Landschaft auch die Einstellungen der Menschen zum radikalen Wandel um sich herum festzuhalten – bis hin zum Verlust ihrer Heimat.

Am ersten Januar wird Fidel Castros Revolution 50 Jahre alt. Gibt es da etwas zu feiern? Ein Blick in ein absurdes System, in dem ein trister Staatssozialismus einen illegalen, wilden Kapitalismus subventioniert

Von Toni Keppeler
und Cecibel Romero

Wo in Havanna die aus der Altstadt kommende Prachtallee Prado auf den Malecón entlang dem karibischen Ufer stößt, steht eine Mauer: die Fassade des ehemaligen Hotels Pakar. Eine Wand, drei Stockwerke hoch, mit langen Reihen aus hohen, leeren Fenstern. Ein bisschen Patina in toskanischen Farben hat dem salzhaltigen Meereswind widerstanden. Die eingestürzten Stockwerke dahinter sind längst abgerissen, die Trümmer weggeschafft. Nur die koloniale Fassade ließ man stehen. Sie ist eingerüstet und soll dereinst einem neuen, modernen Hotel Flair verleihen.

Wer Havanna zum ersten Mal besucht, hat den Eindruck, als ob hier etwas geschähe. Als ob der Staat etwas tue gegen den Verfall. Man kann sich das neu eröffnete Hotel Pakar schon vorstellen. Aber bis es so weit sein wird, werden noch viele Jahre vergehen, und vielleicht wird es nie geschehen. Das Gerüst steht schon lange und schützt die Wand vor dem Einsturz. Seit über einem Jahrzehnt ist das Hotel am Prado nur eine Fassade mit nichts dahinter. Kuba ist mehr Schein als Sein, auch im fünfzigsten Jahr seiner Revolution.

Fidel Castro war schon immer ein genialer Täuscher. Bereits 1957 in der Sierra Maestra, als seine Rebellenarmee kaum zwei Dutzend Kämpfer zählte, führte er die Welt hinters Licht. Elio Pena, laut Visitenkarte „Erster Spezialist in Museologie“ im Museum der Revolution, erzählt immer wieder gern, wie der Comandante en Jefe 1957 den New-York-Times-Reporter Herbert L. Mathews zum Interview in sein Guerillacamp lud. Während die beiden dort Zigarren schmauchten und plauderten, ließ Fidel seine wenigen Männer in verschiedener Maskerade immer wieder auf- und abtreten. Als angebliche Botschafter der ersten, zweiten, dritten oder vierten Kolonne brachten sie Nachrichten von imaginären Fronten. Der Reporter war beeindruckt und schrieb auf der Titelseite seiner Zeitung eine Hymne auf eine nicht existente Rebellenarmee und ihren charismatischen Führer.

Scharaden wie diese schufen das Bild vom sympathischen, schlitzohrigen Revolutionär. Garniert wurde es mit Wahnsinnstaten wie der Fahrt der für höchstens zwanzig Personen gebauten Ausflugsjacht „Granma“, mit der am zweiten Dezember 1956 über achtzig seekranke Guerilleros an der kubanischen Küste strandeten, um das Land vom Tyrannen Fulgencio Batista zu befreien. Museologe Pena kann Stunden lang über diese und andere Taten reden. Er kennt die Details aller Schlachten und Siege. Zwölf Kämpfer sollen es gewesen sein, die zusammen mit Fidel den Angriff der Batista-Armee nach der Landung der „Granma“ überlebten. (In Wirklichkeit waren es ein paar mehr.) Vom Auftakt des Befreiungskriegs mit dem gescheiterten Sturm auf die Moncada-Kaserne am 26. Juli 1953 bis zur Flucht des Diktators am ersten Januar 1959 vergingen genau fünf Jahre, fünf Monate und fünf Tage. Sieben Jahre arbeitete ein Künstler an den lebensechten Puppen der dahingeschiedenen Comandantes Ernesto „Che“ Guevara und Camilo Cienfuegos, die heute die Hauptattraktion des Revolutionsmuseums sind. Mystische Zahlenspiele, die Fidel Castro und seiner Revolution eine religiöse Aura verleihen. Hinter dem Museum liegt die „Granma“ in einem pharaonischen Sarg aus grünem Panzerglas.

Mehr als alles andere sind es diese frühen Heiligenlegenden, an die man am fünfzigsten Jahrestag der Revolution erinnern wird. Es ist die Vorgeschichte der Revolution, auf die man im offiziellen Kuba besonders stolz ist. Ist der Museologe aber am ersten Januar 1959 angekommen, wird sein Redefluss stockend. Gerade so, als sei mit dem Sturz Batistas und dem eigentlichen Beginn der Revolution alles schon wieder vorbei gewesen; als gäbe es danach kaum mehr etwas zu erzählen. Sicher, es gab noch ein paar Schlachten und Siege: Im April 1961, als in der Schweinebucht eine von den USA finanzierte Söldnertruppe in wenigen Tagen aufgerieben wurde. Oder im Oktober 1962, als die Sowjetunion Mittelstreckenraketen auf Kuba stationierte und damit die Welt an den Rand eines Atomkriegs brachte. Auch das heldenhafte Ertragen der seit bald fünfzig Jahren andauernden Handelsblockade der USA und natürlich die angeblich mehr als 600 Attentatsversuche, denen Fidel Castro entkam, werden gern erwähnt. Im Durchschnitt wäre das ein Attentat pro Monat.

Von der so genannten Mariel-Krise von 1980, als Castro nach der Erstürmung der peruanischen Botschaft in Havanna rund 130.000 Kubaner in die USA fliehen ließ, redet der Museologe nicht. Auch nicht von der Balsero-Krise von 1994, als sich Zehntausende auf Flößen ins Meer stürzten, um die Küste Floridas zu erreichen, und Unzählige von Haien gefressen wurden. Heute sind solche Massenfluchten unwahrscheinlich. Die große Mehrheit der Kubaner hat sich mit dem Sozialismus der Gebrüder Castro abgefunden. Nach den harten Jahren der sogenannten Spezialperiode in Friedenszeiten, die auf den Zusammenbruch der Sowjetunion folgten, ist das Leben wieder erträglicher geworden. Damals brachen über Nacht fünfundachtzig Prozent der kubanischen Exportmärkte weg, das Bruttoinlandsprodukt sackte innerhalb eines Jahres um über dreißig Prozent ab. Der Wechselkurs des kubanischen Pesos erklomm auf dem Schwarzmarkt solch schwindelerregende Höhen, dass ein einfacher Arbeiter für einen Monatslohn gerade einmal einen einzigen US-Dollar bekam.

Massentourismus war damals die Lösung und schaffte zunächst nur Probleme. Denn Touristen geben Trinkgelder in harten Devisen. Als Parkplatzwächter bekam man an einem Tag mehr Geld zugesteckt, als ein Neurochirurg in einem Monat verdient, als Liftboy konnte man mit einer einzigen Aufzugfahrt mehr verdienen als ein Lehrer im ganzen Monat. Warum dann noch unterrichten und operieren? Das Bildungs- und Gesundheitswesen – bis dahin florierende sozialistische Vorzeigebiotope – trockneten aus. In den Bodegas, in denen auf Bezugsschein subventionierte Lebensmittel zu symbolischen Preisen abgegeben werden, staubten die leeren Regale ein.

Die Bodegas sind noch heute ein eher trauriger Anblick. Aber immerhin, es gibt dort Reis und Bohnen, Speiseöl und Salz, sogar Zigarren und Rum. Ab und zu, sagt ein Kunde, bekomme man sogar eine Kartoffel. Jedes Kind bis zum Alter von sieben Jahren erhält einen halben Liter Milch pro Tag. Knapp die Hälfte des Lebensmittel- und Hygienebedarfs kann eine Familie zu Spottpreisen in der Bodega befriedigen. Die große Mehrheit der Bewohner der karibischen Nachbarinseln kann von so etwas nicht einmal träumen. Ganz zu schweigen von der ärztlichen Versorgung, die weiterhin gratis für alle ist.

Die Kubaner freilich beklagen sich. Vor allem über das jugendliche Alter und die mangelnde Erfahrung ihrer Ärzte. Kaum einer hat seine Facharztausbildung schon abgeschlossen, aber alle operieren schon fleißig und füllen damit das Loch, das Republikflüchtlinge und überqualifizierte Liftboys aufgerissen haben und diejenigen Mediziner, die ganz legal im Ausland arbeiten. Früher exportierte Kuba Zucker in die Sowjetunion und bekam dafür Maschinen und Erdöl. Heute werden über 30.000 Ärzte exportiert, die meisten nach Venezuela. Als Gegenleistung gibt es noch immer Benzin.

Das kubanische Gesundheitssystem könne sich das leisten, sagt Eneida Pérez, stellvertretende Direktorin der Augenklinik Ramón Pando Ferrer, und präsentiert die Zahlen ihrer Fachrichtung: Vor dem Jahr 2004 habe es in Kuba 600 Augenärzte gegeben. Inzwischen gebe es 1.600. Knapp die Hälfte davon sei im Auslandsdienst. Für Kuba bleiben mindestens 200 mehr als zuvor.

Augenärzte bilden derzeit die Avantgarde der kubanischen Außenpolitik. Im von Pérez erwähnten Jahr 2004 erfanden Fidel Castro und sein venezolanischer Bewunderer Hugo Chávez die Mission Milagro (Wunder): Bis zum Jahr 2020 wollen sie die durch grauen Star verursachte Blindheit beseitigen. Und das nicht nur in Kuba und Venezuela, sondern weltweit. Kuba stellt die Ärzte, Venezuela bezahlt mit Petrodollars. Gemeinsam haben die beiden Länder schon Augenkliniken in Bolivien, Ecuador und etlichen anderen lateinamerikanischen Ländern gebaut; sogar in Algerien, Mali und China. Aus anderen Ländern werden Patienten zur Behandlung nach Kuba geflogen. Das Operationszentrum ist das Krankenhaus Pando Ferrer, vollgestopft mit der neuesten Medizintechnologie aus europäischen Ländern. Ebendeshalb werden ausländische Journalisten gerne ins Pando Ferrer geführt. Fast zwei Millionen Blinde hat die Mission Milagro wieder sehend gemacht. Und sie hat ihnen die Augen für die Erkenntnis geöffnet, dass Sozialismus – zumindest in ihrem persönlichen Fall – besser ist als Kapitalismus.

Eine Vorzeigeschule scheint es dagegen nicht zu geben. Die Schule des vierundzwanzigsten Februar in Havanna, die mit staatlicher Erlaubnis besucht werden darf, ist schon rein äußerlich kein Renommierobjekt: Zwei heruntergekommene, gut hundert Jahre alte Bürgervillen, die notdürftig für den Unterricht hergerichtet wurden. Seit 1959 wurde nichts in die Substanz der Gebäude investiert. Ein paar Dutzend Stühle mit in die Lehne integrierter Schreibunterlage wurden aufgestellt, ein paar Tafeln an die Wand gehängt und auch ein paar Fotos von Che und Fidel. 748 Erwachsene werden dort unterrichtet. Die meisten sind Opfer der Spezialperiode.

Damals floh jeder, der konnte, aus dem zusammenbrechenden staatlichen System. Neun Schuljahre sind in Kuba Pflicht. Danach gab es keinen Grund mehr, irgendetwas zu lernen. Qualifizierte Jobs brachten nur einen Bruchteil dessen, was man als Handlanger in der Schattenwirtschaft verdiente – auf dem Schwarzmarkt floss richtiges Geld. In den Neunzigerjahren verwandelte sich Kuba in ein korruptes Land: Jeder klaute aus dem staatlichen Sektor, was es zu klauen gab, und verscherbelte es danach gegen harte Devisen.

Je mehr sich die staatliche Wirtschaft dank Tourismus und Petrodollars aus Venezuela erholte, desto mehr wurde die Schattenwirtschaft wieder reglementiert. Heute gibt es kaum mehr Menschen, die legal auf eigene Rechnung arbeiten. Die meisten der damals entstandenen paladares genannten Familienrestaurants sind unter den Steuern, die ihnen auferlegt wurden, zusammengebrochen. Wer in der Krise statt auf Bildung aufs schnelle Geld gesetzt hatte, gehört heute zu den Verlierern. Es gibt kaum mehr Berufe, für die ein Hauptschulabschluss genügt, sagt Alicia Loy, die Direktorin der „Erwachsenenschule 24. Februar“. Selbst für einfache Arbeiten werde mindestens Abitur verlangt, oft braucht man auch Fremdsprachen- und Computerkenntnisse. Hier, in den beiden alten Bürgervillen, kümmern sich die Lehrer darum, dass aus den Verlierern „wieder nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden“.

Wer in Kuba heute überleben will und kein Geld von Verwandten aus dem Ausland bezieht, braucht einen staatlichen Job. Wo sonst gäbe es etwas zu stehlen? Apotheker sagen ihren Kunden, die mit Rezept verlangte Gratismedizin sei derzeit nicht zu haben – um ihnen genau diese eine halbe Stunde später auf der Straße gegen Devisen zu verkaufen. Bauarbeiter verkaufen Zementsäcke, Krankenhausköche Säcke voll Reis, alles landet auf dem Schwarzmarkt. Jeder braucht harte Währung, um das, was es in der Staatsbodega nicht gibt, in der Schattenwirtschaft zu besorgen. Und weil überall zu viel geklaut wird, wird es nie genug in der Bodega geben. Ein absurdes System.

Gesundheit und Bildung mögen zwar sozialistisch im besten Sinne sein – doch hinter dieser schönen Fassade subventioniert ein trister Staatssozialismus einen illegalen, wilden Kapitalismus im Untergrund und kommt deshalb selbst nie vom Fleck. Kann so etwas auf die Dauer gut gehen? Es geht schon fünfzig Jahre; nicht gut, aber es geht.

TONI KEPPELER, 52, und CECIBEL ROMERO, 37, sind Mitglieder der Reportage-Agentur Zeitenspiegel