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Archiv-Artikel

Ohne Basis

Ein moderner und progressiver Islam wird nur gedeihen, wenn er unabhängig vom Westen entwickelt wird – und seine Protagonisten die Sprache des Volkes sprechen

Die Progressiven müssen beweisen, dass es für liberale Muslime einen Platz im Himmel gibt

Der Ausdruck „progressiver Islam“ wird heute als Umschreibung für einen domestizierten und kraftlosen Islam benutzt, der von den Regierungen muslimischer Nationen wie ihren westlichen Verbündeten gleichermaßen akzeptiert und bevorzugt wird. Im gegenwärtigen Klima des „Krieges gegen den Terror“ können muslimische Staaten und Regime die entsetzlichsten Menschenrechtsverletzungen verüben und trotzdem den Ehrentitel „progressive moderate muslimische Staaten“ erhalten – wenn sie sich nur mit dem Westen verbünden.

Aus Angst, ausländische Investititionen und Touristen-Dollar zu verlieren, übertreffen sich Staaten wie die Türkei, Pakistan, Indonesien und Malaysia darin, zu zeigen, wie moderat und progressiv sie sind, indem sie – oft ohne die geringsten Beweise – möglichst viele Islamisten verhaften.

Doch ein moderater Islam wird unter repressiven Bedingungen nicht gedeihen. Sowohl in Malaysia als auch in Indonesien führte die harte Hand der Regierungen im Umgang mit allen islamischen Bewegungen und die Form des öffentlichen Diskurses dazu, dass die progressiven Muslime von der Polizei überwacht wurden. Daher hatten sie niemals eine Chance, sich zu entwickeln oder zahlreiche Anhänger zu gewinnen.

Viele Ideen und Werte progressiver muslimischer Strömungen wurden zudem von den Staaten selbst instrumentalisiert. Sowohl in Malaysia als auch in Indonesien wurden die Anliegen progressiver Muslime von den Eliten ausgenutzt, die damit ihre einseitige und kurzsichtige Entwicklungspolitik rechtfertigten. Andere Aspekte der Progressiven in Bezug auf Demokratie, Rede- und Glaubensfreiheit wurden dagegen mehr oder weniger verworfen.

Bis heute werden viele muslimische Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen und intellektuelle Aktivisten vom Staat hofiert – auf Kosten der Glaubwürdigkeit des Projekts des progressiven Islams. Noch mehr beschädigt wird dieser dadurch, dass muslimische Organisationen und Intellektuelle durch westliche – speziell US-amerikanische – Stiftungen, Nichtregierungsorganisationen und universitäre Einrichtungen umworben werden. Dies verwässert die Glaubwürdigkeit der Progressiven weiter, wie es auch ihre ohnehin bereits schwache Bindung an ihre eigenen Gesellschaften schwächt. Aber der progressive Islam kann und wird keinen Erfolg haben, solange er nicht auf eigenen Beinen steht. Die Organisationen und Parteien des orthodoxen, traditionellen Islams in Malaysia und Indonesien sind deswegen erfolgreich, weil sie gelernt haben, eigene Unterstützungsnetzwerke ohne die Hilfe und Schirmherrschaft des Staates aufzubauen.

Außerdem führt die elitäre intellektuelle Kultur der Institutionen des „progressiven Islam“ in Malaysia und in Indonesien dazu, dass die Botschaft der progressiven Muslime unverständlich bleibt. Die meisten Muslime können sich nicht einmal die Publikationen dieser Intellektuellen leisten, die viel teurer sind als die leicht zu erhaltenden Flugblätter und Broschüren der konservativen Muslime – von denen viele in Moscheen und Koranschulen kostenlos verteilt werden.

Unverständlich ist einfachen Menschen auch, dass die Progressiven den Diskurs der Alltagssprache sowie die normativen Ausdrücke des Islam, wie sie von ihren traditionalistisch-konservativen Counterparts verstanden werden, als gestrig ablehnen. Doch genau darin liegt der Fehler der Progressiven.

Der traditionelle Islam hat Erfolg und zieht das Publikum weiter in den Bann, gerade weil er die Macht und den Wert des kulturellen Kapitals nicht unterschätzt. Die theologischen Prinzipien der Traditionalisten erreichen ihre höchste Verklärung mit der Schaffung eines Führerkultes, Vorstellungen von göttlicher Absicherung und in spirituelle Führer investierte Autorität und einem Märtyrerkult. Wenn die Führer der konservativen islamischen Parteien und Bewegungen in Malaysia und Indonesien ihren Anhängern sagen, dass deren Stimme für die islamische Opposition ihnen „einen Platz im Himmel“ garantiert, so ist dies nicht nur reine Propaganda und Wortspielerei. Denn mit solchen Behauptungen ist auch ein komplexer populärer Diskurs muslimischer Massenkämpfe und -opfer verbunden, die das Paradies als ihre letztliche Bestimmung und Belohnung ansehen.

Dem progressiven Islam fehlen solche Qualitäten und Elegemente wegen seines Fokus auf das Hier und Jetzt. Er ist am entscheidenden „Sprung ins Jenseits“ gescheitert, vom Register des Alltäglichen zum Register des Metaphysischen. Er muss noch beweisen, dass es auch für progressive, liberale und rationale Muslime einen Platz im Himmel gibt, denn das ist es, was letztlich für Millionen Gläubige zählt – Muslime wie Nichtmuslime. Kurz gesagt: Es fehlt eine große eschatologische Geschichte, die es mit den Erzählungen der fundamentalistischen und tradionellen Konservativen aufnehmen könnte.

Heute mehr denn je muss sich das wahrhaft progressive und moderate Gesicht des Islam selbst zeigen. Im malaysischen und indonesischen Kontext bedeutet dies, eine neue Stimme des Islam zu entwickeln, die sich universalistischer und humanitärer Prinzipien verpflichtet fühlt und den Missbrauch der Macht im In- und Ausland kritisiert. Das würde eine Schule des islamischen Denkens bedeuten, die bereit wäre, Themen wie Demokratie, Zivilgesellschaft, Geschlechterpolitik und wirtschaftliche Gerechtigkeit unter ihre Fittiche zu nehmen. Das müsste auch eine Schule islamischen Denkens sein, die konstant die Machenschaften von Macht auf globaler Ebene verdammt und zugleich die Wege aufdeckt, wie sich die Geopolitik direkt und schädlich auf die Politik zu Hause auswirkt.

Es reicht nicht, wenn sich progressive Muslime nur über die Radikalität und Militanz der Konservativen beschweren. Sie müssen selbst zeigen, wie die universellen Prinzipien von Gerechtigkeit, Gleichheit und sozialer Ordnung des Islam in konkrete politische, wirtschaftliche und soziale Programme übersetzt werden können und die den Weg öffnen für eine demokratischere und inklusivere Form der Politik.

Viele Ideen und Werte progressiver Muslime wurden von den Staateninstrumentalisiert

Das heißt, alternative Bildungsprogramme zu entwickeln, neue Lernmethoden, Lehrpläne und Programme, die die marginalisierten Sektoren der Gesellschaft stärken. Statt in teuren Forschungsinstituten zu arbeiten, die in exquisiten Vierteln von Jakarta, Singapur oder Kuala Lumpur angesiedelt sind, sollten sie sich ins Zentrum der Probleme begeben: in die ländlichen Gebiete und in die überbevölkerten Squattersiedlungen der eigenen Städte.

Aber damit die progressiven Muslime in diesem Kampf um die Herzen, Köpfe und Seelen der Muslime vorankommen, müssen sie diese eine Sache machen, die sie bisher nicht getan haben: zurück auf die Straße gehen und die Sprache des Volkes sprechen.

FARISH A. NOOR

Aus dem Englischen von Sven Hansen