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Archiv-Artikel

Kriegsbilanzen

Beim Thema Kriegsberichterstattung liegen die Nerven blank. Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch in den Redaktionen. Die Vielfalt der Informationen verstärkt die Unsicherheit. Viele Reporter beschränken sich auf das vergleichsweise sicher scheinende Terrain der Frontberichte. Doch wer Kriegsbilanz ziehen will, darf militärische Wahrheit nicht von emotionaler und politischer Wahrheit trennen

von BETTINA GAUS

Tagelang hat ein Hörfunkreporter aus Swasiland vermeintlich „live“ aus der irakischen Hauptstadt Bagdad berichtet – obwohl er in Wahrheit friedlich zu Hause saß. Der Schwindel flog nur auf, weil der Journalist so unklug war, sich im Parlamentsgebäude seiner Heimat blicken zu lassen.

Diese Meldung erschien Redakteuren deutscher Tageszeitungen lustig genug, um sie zu drucken. Worin besteht die Pointe? In der Schadenfreude, wie bei allen Köpenickiaden: Das Publikum ist als naiv und leichtgläubig vorgeführt worden, während zugleich wieder einmal bewiesen wurde, dass man Journalisten nicht immer trauen kann.

Pfusch und faule Tricks gibt es überall auf der Welt und in allen Berufen. Wenn eine entsprechende Meldung aus dem südlichen Afrika sogar im fernen Deutschland auf Interesse stößt, dann muss ein Nerv getroffen worden sein. Für die Nachricht über den Reporter an der friedlichen Heimatfront gilt das ganz gewiss. Im Zusammenhang mit Kriegsberichterstattung liegen die Nerven so blank wie bei kaum einem anderen Medienthema – und zwar nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern sogar in den Redaktionen.

Als Erstes stirbt die Wahrheit“: Dieser Satz, der ursprünglich lediglich zur Vorsicht im Umgang mit Kriegspropaganda mahnte, wird inzwischen zur Begründung für ein Misstrauen auch gegen unabhängige Journalisten herangezogen, das in seiner Ausprägung schon an Paranoia grenzt. Ulrich Tilgner, der ZDF-Korrespondent in Bagdad, bemerkte kürzlich entnervt, wenn in der irakischen Hauptstadt zwei Autos zusammenstießen, sprächen deutsche Medien von einem „angeblichen“ Verkehrsunfall.

Es scheint zunächst ein seltsamer Widerspruch darin zu liegen, dass die Skepsis gegenüber den Nachrichten von der Front ausgerechnet zu einem Zeitpunkt wächst, zu dem erstmals in der Geschichte des Kriegs eine Flut von Fernsehbildern den Zuschauern den Eindruck vermittelt, das Geschehen selbst direkt verfolgen zu können. Und zwar an – scheinbar – allen Fronten: Die Weltpresse hat Konsequenzen aus dem berechtigten Vorwurf gezogen, sie sei im letzten Golfkrieg 1991 kritiklos der Linie des Pentagons gefolgt.

Jetzt werden Bilder des arabischen Fernsehsenders al-Dschasira ebenso gezeigt wie Aufnahmen des prominenten US-Kanals CNN, Reportagen aus irakischen Krankenhäusern folgen auf Interviews mit britischen Soldaten an der Front. Gewinnt das Bild dadurch an Kontur?

Gerade die Fülle von Informationen, Analysen, Reportagen, Interviews und Meinungen, die sich nicht zu einem stimmigen Mosaik zusammenfügen, lässt im Publikum die bittere Erkenntnis reifen, dass die Quantität der Berichterstattung nichts über deren Qualität aussagt. Und dass man am Ende eines langen Fernsehabends oft auch nicht klüger ist als an dessen Anfang.

Wenn beispielsweise der irakische Informationsminister behauptet, US-Flugzeuge würfen berührungsempfindliche Kleinstminen über dem Irak ab, die in Kugelschreibern versteckt seien, dann kann man das glauben oder auch nicht. Das Gegenteil lässt sich nicht beweisen.

Ich halte die Behauptung für unglaubwürdig. Die Vereinigten Staaten könnten mit derartigen Waffen keine militärischen Erfolge erzielen, erlitten aber im Bereich der psychologischen Kriegführung bei Verbündeten und vor allem bei der irakischen Bevölkerung eine – vermutlich vernichtende – Niederlage. Ich habe keinen Anlass, die Strategen des Pentagons für so dumm zu halten.

Liegt das daran, dass meine politische Sozialisation in einem Land stattgefunden hat, in dem die überwältigende Bevölkerungsmehrheit den USA keine sinnlosen Grausamkeiten unterstellt? Wie reagierte ich auf diese Meldung, wenn ich Araberin wäre? Was löste die Meldung über Kleinstminen in Kugelschreibern in mir aus, wenn ich in Washington lebte? Wird die Behauptung des irakischen Ministers irgendwo auf fruchtbaren Boden fallen? Falls ja: Was sind die Folgen? Warum wird der Minister eigentlich in manchen deutschen Medien als Propagandaminister und nicht als Informationsminister bezeichnet? Welche Bezeichnung ist angemessen?

Wesentliche Fragen bleiben auch in den wenigen Fällen offen, in denen man selbst zu einem eindeutigen Urteil über eine Nachricht gelangt. Unsicherheit erzeugt Aggression. Das wachsende Ressentiment der Öffentlichkeit gegen „die Medien“ ist nicht erstaunlich.

Dabei bleibt die Unsicherheit, die durch die Vielfalt der Informationen verstärkt und nicht etwa vermindert wird, keineswegs auf die Zuschauer beschränkt. Sie erfasst auch die heimischen Zentralredaktionen sowie Moderatorinnen und Moderatoren vor der Kamera.

In den ersten Tagen des Kriegs lieferte vor allem das Fernsehen einen Journalismus ohne Gewähr. Regelmäßige Warnungen, dass die Richtigkeit von Informationen nicht garantiert werden könne, wirkten von Mal zu Mal weniger wie lobenswertes Ringen um größtmögliche Seriosität und Objektivität, sondern immer stärker wie das hilflose Eingeständnis, für den Inhalt des gesendeten Materials nicht verantwortlich sein zu wollen.

Auf der Strecke blieb oft die journalistische Grundaufgabe der Einordnung und der Bewertung.

Seit Beginn des Irakkriegs wurde kaum ein Korrespondentenbericht aus Bagdad im deutschen Fernsehen gezeigt, ohne dass vorher auf die allgegenwärtige Zensur und die eingeschränkten Informationsmöglichkeiten der Reporter vor Ort hingewiesen worden wäre. Die Hinweise waren zutreffend und daher nützlich. Noch nützlicher wäre es allerdings gewesen, wenn die Berichte der embedded journalists, die US-Bodentruppen auf dem Vormarsch nach Bagdad begleiteten, ebenso konsequent mit ähnlichen Hinweisen versehen worden wären. Auch die US-Armee gestattete den sie begleitenden Reportern nämlich keineswegs die Weitergabe aller Nachrichten. Parteilichkeit offenbarte sich im Fernsehen also durch Weglassen – meist vermutlich sogar absichtslos und unbewusst.

Bemühungen, das Meinungsklima mittels einer gezielten Informationspolitik zu eigenen Gunsten zu beeinflussen, sind nicht auf Kriegsparteien beschränkt. Alle Formen der versuchten Manipulation, mit denen sich Kriegsberichterstatter auseinander zu setzen haben, sind auch regelmäßige Herausforderungen für Lokaljournalisten, Parlamentskorrespondenten, Sportreporter und Theaterkritiker, wenngleich in abgeschwächter Form. Die Methoden gleichen sich in allen Ressorts: Einschüchterung, Gewährung von Privilegien und deren drohender Entzug sowie schlichte Fehlinformation.

Und dennoch besteht ein gravierender Unterschied zwischen Kriegsberichterstattern und ihren Kollegen in friedlicheren Gefilden. In Krisengebieten gibt es fast keine Möglichkeit der Gegenrecherche, also der Überprüfung von Informationen durch Nachfragen bei der anderen Seite. Schließlich müssen sich Reporter fast immer unter den Schutz einer Kriegspartei begeben, wenn sie in die Region überhaupt hineinkommen wollen. Sonst kommen sie eben nicht hinein.

In dieser Hinsicht bedeuten die embedded journalists des Irakkriegs nur den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die in anderen Regionen längst zur Regel geworden ist. Wer beispielsweise als Journalist vor dem Sturz des äthiopischen Herrschers Mengistu Haile Mariam 1991 bestimmte Teile des annektierten Eritrea bereisen wollte, konnte dies nur mit Zustimmung und in Begleitung der eritreischen Unabhängigkeitsbewegung tun – und es ist kaum erstaunlich, dass in zahlreichen Reportagen immer wieder die angeblich fabelhafte Infrastruktur der befreiten Gebiete gelobt wurde. Die Revolutionsbewegung wusste, was sie zu zeigen hatte.

Die Tatsache, dass Journalisten mit Kriegsparteien „fraternisieren“ müssen, wenn sie überhaupt an bestimmte Nachrichten herankommen wollen, ist für sich genommen noch nicht bedenklich. Schließlich bestünde die Alternative oft im vollständigen Verzicht auf Berichterstattung. Es gibt jedoch Anlass zur Besorgnis, wenn diese Verbrüderung sogar nach dem Ende der Kampfhandlungen und selbst von Vertretern berufsständischer Organisationen als unvermeidliche, zwingende Vorsichtsmaßnahme betrachtet wird und der Verzicht darauf als unverantwortlicher Leichtsinn.

Kurz nach dem Ende des Kosovokriegs kamen 1999 zwei Reporter des Sterns ums Leben, als sie sich ohne militärische Begleitung in der Region bewegten. Beide verfügten über viel Erfahrung, waren ein – unter professionellen Gesichtspunkten – durchaus als kalkulierbar erscheinendes Risiko eingegangen und fielen einem jener Arbeitsunfälle zum Opfer, die sich in diesem Beruf niemals ganz werden vermeiden lassen. Der damalige Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands, Hermann Meyn, nahm den Vorfall zum Anlass für die Mahnung, Journalismus dürfe nicht zum Abenteurertum verkommen. Ein Sprecher des Verteidigungsministeriums appellierte an Berichterstatter, nicht allein loszufahren, sondern den Schutz der Streitkräfte anzunehmen.

So ehrenwert die Motive gewesen sein mögen, die dieser Empfehlung zugrunde lagen, so fatal wären die Folgen, wenn sich alle Journalisten an derartige Ratschläge hielten. Aus Krisengebieten würde nämlich künftig nur noch aus der Perspektive der Sieger berichtet werden – die es ohnehin leichter haben als die Gegenseite, den Informationsfluss in ihrem Sinne zu steuern. Die Wahrheit stirbt zuerst? Vielleicht. Gewiss aber wäre sie unter diesen Umständen zugleich auch das letzte Opfer jedes Kriegs.

Mit dem journalistischen Berufsethos ließe sich eine solche generelle Praxis nicht vereinbaren und auch nicht mit dem in der Öffentlichkeit beständig wachsenden Bedürfnis nach Orientierung im Gestrüpp einander widersprechender Meldungen. Für dieses Bedürfnis gibt es gute Gründe. Das Fernsehen hat zwar weit entfernte Kriege in ruhige Wohnzimmer gebracht – über das reale Geschehen aber scheinen wir auch heute kaum mehr zu erfahren als unsere Urgroßeltern, die nicht einmal Radioapparate besaßen. Am Ende eines Kriegs steht (meistens) der Sieger fest. Mehr nicht.

Nicht einmal für die Beantwortung der scheinbar einfachsten Frage verfügen wir über annähernd zuverlässige Statistiken: nämlich der nach den Toten, die die Kriege des Fernsehzeitalters gefordert haben. Von gesicherten Informationen über komplexere Zusammenhänge kann erst recht nicht die Rede sein. Im Internet finden sich derzeit penible Aufzeichnungen, die jeden Tag aktualisiert werden, Nachrichten auswerten und Aufschluss über die bisherige Zahl der Opfer des Irakkriegs liefern sollen. Dabei streiten Fachleute noch immer darüber, wie viele Iraker denn vor zwölf Jahren, im Golfkrieg des Jahres 1991, gestorben sind. Die Zahl schwankt zwischen 2.500 und 200.000 – je nach Erhebungsmethode.

Ob im ruandischen Völkermord 1994 eine halbe oder eine ganze Million Menschen umgebracht wurde, wird sich niemals mehr klären lassen. Die Zahl der Toten des Kosovokriegs ist ebenso unbekannt wie die des Angriffs auf Afghanistan. Versuche, das Grauen zählbar zu machen, gibt es durchaus.

So hat der US-Wirtschaftsprofessor Marc Herold in mühseliger Kleinarbeit alle verfügbaren Quellen miteinander verglichen. Er kam zu dem Ergebnis, dass 2001 in Afghanistan mindestens 3.767 Zivilisten durch Bomben getötet wurden. Aber wie glaubwürdig ist ein Ökonom aus New Hampshire mit einer Schreibtischanalyse für diejenigen, die ihm nicht glauben wollen? Vermutlich ähnlich glaubwürdig wie ein „Kriegsreporter“, der von Swasiland aus über den Irakkrieg berichtet. So ungerecht das sein mag.

Spekulativ bleiben ohnehin alle Versuche, die Zahl jener Opfer zu schätzen, die nicht infolge unmittelbarer Waffengewalt, sondern an Kriegsfolgen wie Hunger und Krankheit gestorben sind. Wer vermag schon zu entscheiden, wie viele Menschen, die von Infektionskrankheiten dahingerafft wurden, noch leben könnten, wären sie nicht unterernährt gewesen, weil ein Krieg die Ernte vernichtet hat?

Viele internationale Hilfsorganisationen verfügen zwar über empirisch abgesicherte Fachkenntnisse, die ihnen in diesem Zusammenhang wenigstens Annäherungen an die Realität erlauben. Aber nicht einmal Hilfsorganisationen sind in Krisensituationen stets zuverlässige, neutrale Quellen. Zum einen aufgrund schlichter technischer Probleme: Wer einmal beobachtet hat, wie schwierig die korrekte Registrierung von Flüchtlingen in einem Lager ist, in dem eine doppelt ausgestellte Rationenkarte den Zugang zu Handel und damit zu etwas Bargeld bedeuten kann, der bekommt eine Ahnung davon, wie unzuverlässig Angaben über die Gesamtzahl von Flüchtlingen aus einer Krisenregion oftmals sind. In Somalia reichte die Zahl der Flüchtlinge auf dem Höhepunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit dicht an die Zahl der letzten Bevölkerungserhebung heran.

Manche Hilfsorganisationen sind an Übertreibungen und Fehlinformationen hinsichtlich des Bedarfs nicht unschuldig. Ihre Existenz – und damit auch die berufliche Zukunft der Mitarbeiter – hängt häufig von der Frage ab, wie viele Spendengelder sie erhalten. Je publikumswirksamer das Elend gezeigt wird, desto mehr Geld kommt herein. Ist es unter diesen Umständen erstaunlich, dass sich humanitäre Operationen oft auch dann auf die Versorgung von Kleinkindern mit Lebensmitteln konzentrieren, wenn der Bau von Latrinen oder die Reparatur von Wasserleitungen erheblich dringlicher wäre (und mehr Menschenleben retten könnte)? Und: Wie soll vor diesem Hintergrund eine seriöse Zahl der Folgeopfer von Kriegen ermittelt werden?

Noch schwieriger gestalten sich alle Versuche der Bilanz eines Kriegs, wenn der jeweilige Sieger ein Interesse daran hat, bestimmte Informationen nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen – sei es aus Furcht, ihm könnten Verstöße gegen das humanitäre Kriegsvölkerrecht nachgewiesen werden, sei es aus strategischen Gründen.

Die USA haben sowohl im Golfkrieg als auch bei Angriffen auf verschiedene Regionen des ehemaligen Jugoslawien Bomben und Raketenmunition mit abgereichertem Uran eingesetzt. UN-Experten halten eine langfristige Verseuchung des Grundwassers und andere Umweltschäden für möglich, aus dem Irak melden Wissenschaftler überproportional viele Geburten missgebildeter Kinder, ungewöhnlich viele westliche Golfkriegsveteranen sind an Krebs erkrankt.

Das US-Verteidigungsministerium aber leugnet bislang jede Gefahr: „Diese effektive Waffe birgt keine bedeutsamen Gesundheits- oder Umweltrisiken“, erklärte der Pentagon-Sprecher Steve Campbell. Wenn ein bosnisches Kind heute auf dem Spielplatz mit Uranstaub in Berührung kommt und in fünf Jahren an Krebs stirbt, ist daher nicht anzunehmen, dass es als „Kriegsopfer“ in die Statistik eingehen wird. Auch scheinbar unbestechliches Zahlenwerk ist bei genauem Hinsehen eben ein Spiegel der Machtverhältnisse.

Immerhin gibt es im Zusammenhang mit den militärischen Aspekten eines Konflikts einige Tatsachen, über die schwerlich gestritten werden kann: die offizielle Höhe eines Wehretats beispielsweise, den Aufbau einer Armee oder auch die Typenbezeichnungen von Kampfflugzeugen, Panzern und Raketen.

Eine Fülle von Fachausdrücken aus dem Bereich der Rüstung, die von den meisten Laien kaum verstanden werden, verleiht Berichten aus dem Kriegsgebiet einen Anstrich von Seriosität. Das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass Reporter sich so häufig auf die Beschreibung des konkreten Kampfgeschehens und der dabei verwendeten Waffengattungen beschränken. Dieses Terrain scheint vergleichsweise sicher zu sein.

Aber in einem Krieg existiert niemals nur eine militärische Wahrheit, sondern stets auch eine politische und eine emotionale Wahrheit. Die sind noch schwerer zu ergründen –, und immer eine Frage der Perspektive. Somit sind sie auch unvermeidlicher Gegenstand eines erbitterten Streits, in dem es keine unabhängigen Richter gibt.

Alle drei Bereiche sind eng miteinander verknüpft. Die Unterhaltung mit einer verarmten Bäuerin kann sehr viel informativer sein als ein Interview mit einem General. Ihre Antwort auf die Frage, ob ihr Vieh von hungrigen Soldaten requiriert wurde oder ob es verendete, nachdem es Wasser aus vergifteten Brunnen trank, liefert nicht nur Aufschluss über Kriegsmethoden und über die Versorgungslage der Armee – sie lässt auch Rückschlüsse auf die Gefühle zu, die diese Frau bewegen. Langfristig mögen diese Gefühle für die politische Zukunft eines Landes und dessen Stabilität folgenreicher sein als der Verlauf so mancher angeblichen „Entscheidungsschlacht“.

Aber substanzielle, längere Gespräche mit Zivilisten in Krisengebieten sind für Journalisten schwieriger, als es von außen erscheinen mag. Häufig scheitern sie bereits daran, dass ausländische Korrespondenten nur in seltenen Fällen die Landessprache beherrschen und deshalb auf die Vermittlung von Dolmetschern angewiesen sind, deren Anwesenheit die Interviewpartner misstrauisch oder zumindest vorsichtig werden lässt.

Außerdem sind natürlich auch Zivilisten in Kriegen, die in ihrem eigenen Land geführt werden, meist keine neutralen Zeugen, sondern Partei der einen oder der anderen Seite. Um den Wahrscheinlichkeitsgrad ihrer Angaben beurteilen zu können, brauchen Reporter sowohl eine gute Kenntnis der Verhältnisse vor Ort als auch Erfahrung im Bereich der Kriegsberichterstattung. Oft verfügen die Reporter nur über eine dieser beiden Qualifikationen. Was das Risiko einer Fehleinschätzung deutlich erhöht.

Die Hoffnung, dass wenigstens Regierungen besser und genauer informiert sind als die Öffentlichkeit, hat sich in den letzten Jahren immer wieder als trügerisch erwiesen und dramatische Folgen nach sich gezogen. Politische Irrtümer kosten Menschenleben.

Wenn sich die US-Administration jemals für die Frage interessiert hätte, wer genau im somalischen Bürgerkrieg hungerte und warum, dann hätte sie zu einem alarmierenden Schluss kommen müssen: dass nämlich die scheinbar so harmlose Sicherung von Nahrungsmitteltransporten unvermeidlich bedeuten würde, in einem schwer durchschaubaren Konflikt zur Kriegspartei zu werden.

Denn die Hungersnot war keine Folge von Naturgewalten, und die systematischen Plünderungen waren auch nicht das Werk skrupelloser Banditen. Es ging bei dem Konflikt um gezielte Vertreibungen, um territoriale Kontrolle – und somit letztlich um die Macht. Wie immer.

Die US-Regierung hat sich für die Frage nach den tieferen Ursachen der Hungersnot in Somalia nicht interessiert und dafür teuer bezahlt. Und nicht nur sie hat dafür bezahlt, sondern auch die Bevölkerung, zu deren Rettung die Marines 1992 ausgezogen waren. Bis heute herrscht in Somalia Bürgerkrieg. Als einheitlicher Staat ist die Region seit mehr als zehn Jahren von der Weltkarte verschwunden, und inzwischen taucht das Land in den Nachrichten nur noch dann auf, wenn wieder einmal über die Frage spekuliert wird, ob die Region ein sicherer Hort für Terroristen sei und demnächst womöglich bombardiert werde. Eine politische Lösung der vielschichtigen Probleme Somalias ist nicht in Sicht.

Washington wurde in Mogadischu nicht militärisch besiegt, sondern psychologisch – an der militärischen Überlegenheit der Weltmacht bestand niemals ein Zweifel. Parallelen zum Vietnamkrieg drängen sich auf. In Afghanistan hat der Sturz der Taliban nicht zu einem Sieg der USA auf dem Schlachtfeld der politischen Gefühle geführt. Über die Entwicklung im Irak lässt sich in dieser Hinsicht derzeit trefflich spekulieren.

Zwischen Emotionen und Krieg besteht ein enger Zusammenhang. Diese Tatsache, die von einer betont nüchternen westlichen Öffentlichkeit jahrzehntelang verdrängt worden ist, wurde spätestens am 11. September 2001 auf schreckliche Weise ins kollektive Gedächtnis zurückgerufen. Aber jede Bilanz eines Krieges, die diesen – schwer fassbaren – Zusammenhang außer Acht lässt, wird selbst dann zu einem falschen Ergebnis kommen, wenn alle Einzelposten richtig aufgelistet sind. Derzeit üben wir alle noch. Und lassen uns gerne ins Netz allzu vieler und deshalb oft überflüssiger militärischer Frontberichte fallen.

BETTINA GAUS, Jahrgang 1956, ist politische Korrespondentin der taz in Berlin. Ihr Text entstammt dem aktuellen Kursbuch 152, das unter dem Titel „Blühende Bilanzen“ (Rowohlt, Berlin 2003, 192 Seiten, 10 Euro) im Juni erscheint