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Archiv-Artikel

lexikon der globalisierung Was bedeutet eigentlich „Bevölkerungsexplosion“?

„Bevölkerungsexplosion“ ist ein nach dem 2. Weltkrieg geprägter Begriff zur Bezeichnung der historisch einmaligen Entwicklung der Weltbevölkerung, die sich mit Zuwachsraten von bis zu 2,4 Prozent pro Jahr im 20. Jahrhundert auf 6,1 Milliarden vervierfachte. Waren zu Beginn unserer Zeitrechnung 1.500 Jahre notwendig gewesen, damit sich die Menschheit verdoppelte, dauerte das nun noch 35 Jahre.

Während die Industrieländer des Nordens mit einem niedrigen natürlichen Wachstum – wenn nicht einem Bevölkerungsrückgang – sich einer „Überalterung“ konfrontiert sahen, geht das beschleunigte Wachstum mit 80 Millionen zusätzlichen Erdenbürgern im Jahr zu 98 Prozent auf das Konto der Entwicklungsländer. Dieser hypergeometrische Zuwachs resultiert daher, dass die Sterberate rasch reduziert wurde, während die Geburtenrate fortbesteht oder nur langsam absinkt.

Seit den 1970er-Jahren zeichnet sich jedoch ein Wendepunkt im Sinne der erneuten Konvergenz von Geburten- und Sterberate ab – diesmal jedoch auf niedrigem Niveau. Diese als „demografischer Übergang“ bezeichnete Phase schlägt sich in weltweit sinkenden Wachstumsraten von 1,2 Prozent im Jahre 2002 nieder. Auch wenn Schätzungen zufolge um 2050 eine Nettoreproduktionsrate von 2,1 Kindern pro Frau erreicht werden sollte, wird die Weltbevölkerung angesichts der jungen Altersstruktur in der Dritten Welt noch von dann 9 Milliarden auf vielleicht maximal 11 Milliarden um 2150 ansteigen.

Die Diskussion um die so genannte Bevölkerungsexplosion ist jenseits der Demografie im geistesgeschichtlich-ideologischen Kontext von Entkolonialisierung und Entwicklungsproblematik der Dritten Welt angesiedelt. Unter Rückgriff auf Thomas Malthus (1766–1834) wurden Unterentwicklung, Hunger und Armut zentral auf so genannte Überbevölkerung und damit gesellschaftsinterne Faktoren zurückgeführt, dem man mit Geburtenkontrolle im weitesten Sinne begegnen müsse.

Zweifellos bedeutet eine rasche Entwicklung der Bevölkerung eine hohe Abhängigkeitsquote mit riesigen Investitionen in Gesundheit und Bildung, einem gewaltigen Druck auf Arbeitsmarkt und Ressourcen. Doch bleibt hervorzuheben, dass Bevölkerungswachstum primär eine Variable der Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur (Produktionsweise) ist, dass gerade Armut Kindersegen erzeugt, und wirtschaftliche Entwicklung generell sowie die Stellung der Frau die entscheidenden Parameter einer reduzierten Geburtenrate sind. Klar ist aber auch, dass der Lebensstil der 15 Prozent der Weltbevölkerung im Norden, die über rund 80 Prozent der globalen Güter verfügen, nicht universalisiert werden kann.

JOHN P. NEELSEN

Das Lexikon entsteht in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftlichen Beirat von Attac und erscheint jeden Montag. Nächste Woche: Bevölkerungskontrollpolitik (sic!)