: Hamas schwört erneut Rache
Nach der Ermordung des Hamas-Führers Rantisi bleibt der Name seines Nachfolgers vorerst geheim. „100 Vergeltungsschläge“ gegen Israel angekündigt
von SUSANNE KNAUL
Das Szenario ist das gleiche wie Ende März. Zigtausende Palästinenser im Gaza-Streifen zogen gestern auf die Straße, um den am Vortag von israelischen Kampffliegern exekutierten Chef der Hamas zu Grabe zu tragen. Kaum einen Monat nach der Ermordung von Scheich Achmed Jassin trafen die tödlichen Raketen am Wochenende seinen Nachfolger, den Kinderarzt Dr. Abdel Asis Rantisi. Mit ihm starben zwei seiner Leibwächter. Wenige Stunden zuvor war ein israelischer Soldat bei einem Selbstmordattentat am Erez-Übergang ums Leben gekommen.
Viele Trauernde versuchten, den Leichnam Rantisis mit Händen zu berühren. „Das Blut von Jassin und Rantisi wird neue Vulkane zum Ausbruch bringen, sagte ein militanter Hamas-Anhänger.
Die Palästinenserbehörde ordnete drei Tage nationale Trauer für Rantisi an. Vor dem Hauptquartier des Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat wurde ein Zelt aufgestellt, in dem die Menschen des jüngsten „Märtyrers“ gedenken können. Parallel verhängte auf israelischer Seite die Polizei erhöhte Alarmstufe aus Sorge vor Rache der erzürnten islamischen Fundamentalisten. „100 Vergeltungsschläge“ werden die „gesamte verbrecherische Einheit“ zum Erzittern bringen, so heißt es in einer, wenige Stunden nach der Exekution Rantisis vom militärischen Flügel der Hamas veröffentlichten Drohung. „Als Märtyrer zu sterben“ sei das Schicksal eines jeden Hamas-Aktivisten und es „ist unser Schicksal als Palästinenser“.
Fünfzig Vorwarnungen auf geplante Attentate erreichten die israelischen Sicherheitsdienste bereits bis Sonntagmittag. In die städtischen Buslinien kehrten die regelmäßigen Kontrollgänge schwer bewaffneter Soldaten zurück, landesweit verlangsamten Terroristenfallen an zahlreichen Kreuzungen und auf den Landstraßen den Verkehr. Im Regierungshaus herrschte trotzdem Zuversicht. Wie vor vier Wochen lobte Premierminister Ariel Scharon fast im Wortlaut die „gelungene Operation“ der Armee. Er werde den politischen Prozess vorantreiben und gleichzeitig den Terror bekämpfen.
Erst vor gut einer Woche hatte die Regierung in Jerusalem wiederholt Maßnahmen gegen den Palästinenserpräsidenten, der „nicht immun ist“, in Aussicht gestellt. Auf der Abschussliste steht auch Chaled Maschal, der derzeit in Damaskus ansässige Chef des ausländischen Hamas-Politbüros. „Sobald wir die operative Möglichkeit haben, werden wir zuschlagen“, drohte der israelische Minister Gidon Esra (Likud). Israel könne nicht zulassen, dass „die Hamas nach dem Abzug die Kontrolle im Gaza-Streifen übernehmen wird“. Maschal, der bereits vor acht Jahren einem Anschlag des israelischen Geheimdienstes entkommen war, ordnete an, mit noch größerer Vorsicht als bisher vorzugehen. Die Organisation hat nach eigenen Angaben einen Nachfolger Rantisis benannt, hält den Namen jedoch geheim. Möglicherweise ist es Ismail Hanaija, einer der ranghöchsten Hamas-Funktionäre im Gaza-Streifen. Bei der Beerdigung Rantisis sagte er, dass Hamas nach dem Verlust zweier ihrer Führer „in einer Krise steckt“. Doch „besiegt sind wir nicht“.
Arafat wiederholte unterdessen seine Aufforderung an die Hamas, sich in die Autonomieverwaltung einzureihen. Der palästinensische Premierminister Achmed Kurei (Abu Ala) vermutete, dass die Exekution in Verbindung zu den Gesprächen zwischen Scharon und US-Präsident George W. Bush in der vergangenen Woche steht. Bush hatte Scharon volle Unterstützung für den Abzug aus dem Gaza-Streifen und für das Fortbestehen von Siedlungsblöcken zugesagt. Ferner werde es keine Rückkehr palästinensischer Flüchtlinge nach Israel geben. „Die palästinensische Regierung betrachtet diese terroristische israelische Kampagne als direktes Ergebnis amerikanischer Ermutigungen“, meinte Abu Ala.
In der israelischen Öffentlichkeit wurde die erneute Exekution eines politischen Führers ambivalent diskutiert. Selbst innerhalb der Opposition kam es zu widersprüchlichen Meinungen. Während Schimon Peres, Chef der Arbeitspartei, die Operation begrüßte, meinte Exjustizminister Jossi Beilin, Chef der vor wenigen Wochen gegründeten linken Schachar-Partei, dass Scharon den „Gaza-Streifen in ein Blutbad verwandelt“.