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Archiv-Artikel

Das Alter ist im Kommen

DAS SCHLAGLOCH von VIOLA ROGGENKAMP

Der alternde Mann leidet. Sein Jugendlichkeitswahn bringt ihn zur Strecke

Als meine Freunde mir eine Überraschungsparty zu meinem 60. Geburtstag spendierten, hätte ich sie alle ermorden können. Betty Friedan in „The Fountain of Age“

Früher Nachmittag, und ich muss zum Supermarkt. In meinem Korb klappern leere Jogurtgläser. Vorher noch rasch zur Bank, zum Geldautomaten. Ich öffne die Tür mit meiner Scheckkarte, und mit mir will eine junge Frau sich in den engen Raum hineindrängen. Was sie für cool und locker hält, ist plumpe Distanzlosigkeit, mit der will sie mich ältere Frau übertölpeln und an die Wand drücken. Sie könne sich doch schon mal ihren Bankauszug holen. Ich sage: Nein. Sie warten gefälligst draußen, bis ich hier fertig bin. In ihren Augen kalte Wut auf mich, die Ältere, die Mutter-Frau. Ich nehme mir meine Zeit. Nicht mehr, nicht weniger. Ich überprüfe die Anzahl der Banknoten. So ein Automat kann sich schließlich auch mal irren.

Vorm Supermarkt, gleich am Eingang, werde ich artig von Hinz und Kunz begrüßt. Schönen guten Tag! Hinz und Kunz ist etwas sehr Lobenswertes, nämlich die Obdachlosenzeitung von Hamburg, ich kann es jedoch nicht leiden, wenn ich geradeaus zum Container für leere Flaschen will und von links mich ein junger, großer Mann mit blondem Lächeln notdürftig ansaugt, damit ich ihm eine Spende gebe. Ich will jetzt nicht gut sein, ich muss meine auf dem Küchentisch liegen gebliebene Einkaufsliste memorieren und fühle eine Hitzewelle in mir aufsteigen, bestimmt habe ich was Wichtiges vergessen: Milch, Honig, Butter, Knoblauch, Kartoffeln, Zwiebeln, Tee, Apfelsinen, Parmesan und was noch?

Vor mir am Gemüsestand eine kleine Alte in abgewetztem Mantel mit krummen Beinen und eisgrauem Haar. Ich sehe ihr beim Klauen zu. Zwei Knoblauchknollen steckt sie ein und ein Fläschchen mit frisch ausgepresstem Orangensaft. Sehr vernünftig, alles sehr gesund. Sie ist vielleicht nur zehn Jahre älter als ich, sieht aber schlecht aus. Ich nicke ihr verschwörerisch zu. Überrascht lächelt sie, sofort verjüngt sich ihr Gesicht, und sie nimmt sich noch einen Apfel. Besorgt beginne ich ein Gespräch mit der Filialleiterin. Die kleine Alte entwischt derweil. Wir älteren Frauen müssen zusammenhalten. Vielleicht war sie doch schon an die 70, womöglich Mitte 70. Aber flink auf den Beinen.

Den schweren Korb am Arm, in der anderen Hand zwei Kilo Apfelsinen, so verlasse ich eine Viertelstunde später den Supermarkt und werde auf der Straße von einem Mann nach Kleingeld gefragt. Ein Bettler, viel jünger als ich. Mir tut der Rücken weh, mein einer Fuß schmerzt, ich hätte die schwarzen Pumps nicht anziehen sollen, aber Rock mit Joggingschuhen, das sieht schrecklich unelegant aus.

Sehen Sie nicht, sage ich zu ihm, dass ich beide Hände voll habe? Wie soll ich jetzt mein Portemonnaie für Sie herauskramen? Er zuckt die Schultern. Wenn Sie mir das nach Hause tragen, und dabei hebe ich meine schwere Last etwas an, dann gebe ich Ihnen zwei Euro, ich wohne hier gleich um die Ecke im vierten Stock. Er schüttelt den Kopf. Er will einen Euro umsonst, nicht zwei Euro fürs Schleppen. Dann eben keinen Euro von mir. Offenbar kann er sich sein täglich Brot leichter zusammenbetteln. Richtig, ich brauche noch Brot. Vor dem Bäcker der nächste Bettler. Er hält mir sein Plastikbecherchen hin und deutet stumm auf seine vier Köter, die wohlgenährt auf einer Wolldecke liegen und mich beäugen. Ich gebe nur älteren Frauen, sage ich, das habe ich soeben beschlossen.

Sollte ich achtzig werden, war 1988 das Jahr meiner Lebensmitte, und noch habe ich viel vor. Je älter ich werde, desto sicherer bin ich mir über das, was ich will. Ich gehöre zu der Generation, die länger lebt, als sich das die Rentenpolitiker vor dreißig Jahren so dachten. Ich bin da, mich gibt es. Ich will noch lange mitreden. Auf dem Bürgersteig zischen junge Baseballmützenträger auf ihren Fahrrädern an mir vorbei. Ich muss aufpassen. Sie nicht. Jedem werde ich meinen eisernen Krückstock zwischen die Fahrradspeichen halten. Ich werde eine biestige Alte mit einer harmlos aussehenden so genannten Gehhilfe. Ich sehe die Helden über die Lenkstange ihres Mountainbikes stürzen, die Jogger, die mich rüde anrempeln, denen ihr Tempo wichtiger ist als meine Unversehrtheit, erschlage ich von hinten, und dem Auto, das mir gerade eben an der kleinen Querstraße um ein Haar über die Pumps gerollt wäre, verpasse ich eine lange Kratzspur.

Alte Kuh! Eine junge Frau sitzt am Steuer und beschimpft mich durch ihr offenes Seitenfenster, weil ich an diesem Nachmittag fast ihr Verkehrsopfer geworden wäre. Ich durchsteche mit der Stahlspitze meines eisernen Krückstocks ihren Hinterreifen, und vor Gericht werde ich freigesprochen, ich bin nämlich eine alte Frau und nur ein bisschen meschugge, die Richterin nickt mir freundlich zu, das muss sie auch, immerhin hat sie es mir zu verdanken, dass sie da oben sitzt. Ich bin eine uralte Feministin. Ohne mich säßen die jungen Dinger weder hinterm Steuerrad ihres Autos noch in irgendeiner Position, sondern unter seinem Klingelknopf, in seiner Einbauküche, unter seiner Stehlampe.

Wir brauchen eine neue Frauenbewegung, wir brauchen den Aufstand der alten Frauen

Das Alter ist im Kommen. Große Aufgaben liegen vor uns. Wir brauchen eine neue Frauenbewegung, wir brauchen den Aufstand der alten Frauen. Wir leben am längsten, wir sind wichtig. Jung sind Frau und Mann in unserer Gesellschaft doch nur die ersten 30 Jahre, und davon bloß das dritte Jahrzehnt in geschäftsfähigem Zustand. Danach beginnt das Alter.

Wirtschaft und Werbung müssen wir umerziehen, mehr alte Filme ins Fernsehen, zurück zur Kultur, das Hörfunkprogramm muss sofort wieder geändert werden. Weg mit der Musikdudelei. Zurück zur Nachdenklichkeit und zum Zuhören. Wir wollen die alten, guten Sprechsendungen wiederhaben. Warum wohl boomt der Markt der so genannten Hörbücher? Weil wir Alte, die Mehrheit der Bevölkerung, uns unsere Radioprogramme selbst gestalten müssen. Breitere Bürgersteige für uns Alte, mehr Fahrstühle, kein Bahnhof ohne Gepäckträger, kein Fahrplanaushang ohne beigefügte Leselupe, Bankkredite auch für 80-Jährige, keine Altersgrenze bei Stipendien und Förderpreisen. Wir Alte haben Ideen, geben Geld aus, konsumieren, nach uns muss man sich richten.

Aber wieso ist das Alter auf einmal im Kommen? Wem haben wir diese unerwartete Wertschätzung zu verdanken? Natürlich dem Mann, dem alternden Mann. Auf die Frauen hört ja keiner. Der alternde Mann leidet. Sein Jugendlichkeitswahn bringt ihn zur Strecke. Alt, so glaubte der Mann noch bis gestern, alt werde nur die Frau, vor allem seine Frau. Doch seine Frau wird immer jünger. Bereits die dritte und erst recht die vierte könnte seine Enkelin sein. Der alternde Mann schluckt Potenzmittel, lässt sich Kalbshormone in den Hintern und ins Hirn jagen und rasiert sich den Kopf, damit die grauen Haare nicht zu sehen sind. Die junge, attraktive Frau an seiner Seite, sie, die ihn noch einmal Vater werden lässt, sie macht ihn furchtbar alt. Und das ist doch schön von ihr, denn sie ist die junge Rächerin der alten Frauen.