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Archiv-Artikel

Delmenhorst war sein Schicksal

Kunst unter den Bedingungen der Provinz: Der notgedrungene Rückzug erwies sich für Fritz Stuckenberg als Weg ins Vergessen. Eine Wiederentdeckung des sanften Expressionisten wäre gerecht. Nur müsste dafür seine Qualheimat zum schwarzen Punkt auf der Landkarte des Kunstbetriebs avancieren

von BENNO SCHIRRMEISTER

Bis 1921 war der Maler Fritz Stuckenberg eine anerkannte Größe im Kreis der deutschen Avantgarde. Dann, im Alter von 40 Jahren, zieht er sich von Berlin nach Delmenhorst zurück. Wegen akuten Geldmangels, vor allem aber wegen seiner Syphilisinfektion, die sein Zentralnervensystem zerrüttet und die Abwehrkräfte schwächt. Ein bald bereuter Entschluss: 1927, da sitzt er schon im Rollstuhl, bezeichnet der Lichtenthusiast seinen Wohnort in einem Brief als „außerordentlich finster“. In der oldenburgischen Provinz schwindet jeder Glanz – schneller noch als der Körper. Bereits um 1930 ist Stuckenberg ein Vergessener. 1944 stirbt er.

Es wäre an der Zeit, ihn wieder mehr zu beachten. Der Kunstmarkt tut es bereits – seit dem Ende der 90er-Jahre haben sich die Preise für sein Oeuvre rund verzehnfacht. Zuletzt wechselte im vergangenen November die kleine Arbeit „Mechanik“ bei einer Auktion den Besitzer. Für das signierte Ölbild auf Pappe von 1926 erhielt der Bieter bei 14.160 Euro den Zuschlag. Auch die musealen Voraussetzungen für eine Wiederentdeckung wären eigentlich gut: Stuckenberg ist ein eigenes Ausstellungsgebäude gewidmet. Allerdings: Es steht in Delmenhorst.

Gleichviel ob man das Schicksal nennen will oder auch Dialektik: Die Wiederentdeckung des Malers ist so in jedem Fall abhängig davon, ob der Ort seines Vergessens vom weißen Fleck auf der Landkarte des Kunstbetriebs zum schwarzen Punkt avanciert. Nur, wie könnte das anders geschehen als eben durch die Wiederentdeckung Stuckenbergs?

Delmenhorst: eine Fußgängerzone von der Stange, mediokre Geschäftshäuser, mittelmäßige Einfamilienhäuser, die üblichen Backsteinkirchen aus dem 19. Jahrhundert. Wahrscheinlich ist die Stadt sogar vollkommen ohne böse Absicht entstanden. Ein beliebiger Ort. Ein Ort zum Vergessen.

Kaum anders erscheint das Kaff auch auf den Ansichten, die Stuckenberg Ende der 30er-Jahre gemalt hat. Spröde ist dieses Spätwerk: Es wirkt wie ein Rezidiv der impressionistischen Lehrjahre. Ist es aber genauso wenig wie das Exil-Schaffen etwa eines George Grosz. Ganz ähnlich wie bei dem einstigen Weggefährten – auch Stuckenbergs Arbeiten gehörten zur ersten Berliner Dada-Ausstellung – finden sich verwirrende Ungereimtheiten: Gegen alle Fluchtpunkt-Logik per Lineal quer übers Blatt gezogen sind die Zäune. Feinsäuberlich scharf hat der Pinsel die Misthaufen konturiert. Und das Grün der Wiesen – pures Gift! Das ist die Signatur eines magischen Realismus: ein Abbild, das durch eine beschädigte Perspektivik und poppig schrille Farben zugleich seinen Abbild-Charakter negiert. Die Erfahrung des avantgardistischen Aufbruchs hat eine simple Mimesis für immer verboten.

In Berlin hatte Stuckenberg dem inneren Kreis des „Sturm“ angehört. 1918 überwirft er sich mit Herwarth Walden, doch dafür nimmt ihn der Arbeitsrat für Kunst mit offenen Armen auf. Und 1921 produziert er unterm Label „Bauhaus“. Seine Bilder touren in Gruppenausstellungen durch die Welt – New York, Amsterdam, Leningrad.

Trotzdem lag der fatale Umzug im Grunde nahe. Die Familie Stuckenberg wohnte seit 1893 in Delmenhorst. Er war dort aufgewachsen. Und der Ort hat, für Genesungsbedürftige, viele Vorzüge: Er ist, zum einen, sehr ruhig. Außerdem kann Stuckenberg hier bei den Eltern wohnen. Und schließlich bekleidet ja sein Vater bei den örtlichen Linoleumwerken die Position des kaufmännischen Direktors. Fußbodenfabrikanten brauchen immer Leute, die Muster zeichnen. Eine kreative Tätigkeit, fast sogar abstrakte Kunst, und trotzdem lässt sich Geld damit verdienen. Ist das denn gar nichts?

Zauberhaftes Delmenhorst: Autos fahren, das Gras grünt und Passanten passieren das Zentrum. Sie scheinen nur wenig davon zu halten, dass es bei ihnen zu Hause wirklich so etwas wie ein Kunstmuseum geben soll. „Städtische Galerie?“, echot es auf die Frage nach dem Weg. Unter resolutem Kopfschütteln werden die Einkaufstaschen wieder aufgenommen. „Da sind Sie hier sicher ganz falsch.“

Und doch existiert’s: Barbara Alms leitet das Museum seit zwölf Jahren. Und lobt das bürgerschaftliche Engagement und die breite Akzeptanz der Kulturinstitution. Dass der Wohnort viel dazu beigetragen habe, den Namen Stuckenbergs aus der Kunstgeschichte zu radieren, glaubt auch sie. Oder hätte es an der Qualität des Oeuvres gelegen? Dem steht das Urteil der Zeitgenossen entgegen. So eröffnet 1919 der scharfsichtige Kritiker Adolf Behne seine Artikel-Serie „Werkstattbesuche“ mit einem enthusiastischen Stuckenberg-Porträt. „Künstler ist jener Mensch“, hebt die Würdigung mit anthropologischer Verve an, „den die Farben lieben.“ Der Prototyp? Na Stuckenberg, wer denn sonst? „Vollkommen erfüllte Bilder“, habe der geschaffen, „erfüllt von einer immateriellen Gesetzlichkeit.“ In der Tat wirken manche der Aquarelle unerhört jazzig-spontan, bestehend nur aus Klecksen und verlaufenden Flecken: Tachismus avant la lettre – Stuckenberg war ein radikaler Maler. Und doch zugleich ein ganz sanfter. Nur selten ist sein Malgestus eruptiv. Auch das hatte bereits Behne bemerkt. „Stuckenberg“, schreibt er, „könnte eine Kutte tragen.“ Ein mönchischer Expressionist, das klingt widersprüchlich. Auch war der Mann dreimal verheiratet und, wie gesagt, wirklich kein Asket. Aber es fasst doch den Charakter: ruhend kontemplativ. Allzu kontemplativ sogar, was die Politik angeht: 1935 stellt Stuckenberg verwundert fest, dass in München keine Ausstellung seiner Werke durchzusetzen ist. 1937 werden einige dann doch dort vorgeführt. Als entartete Kunst.

In den schmalen Räumen der Städtischen Galerie drängen sich Aquarelle bisweilen turmartig von 10 Zentimeter oberhalb der Scheuerleiste bis 15 Zentimeter unterhalb der Decke. „Das ist nicht nur wegen des Platzmangels so“, betont Alms. Die ungewöhnliche Hängung erfüllt auch einen didaktischen Zweck. Denn Stuckenbergs Malerei bewegt sich in allen verfügbaren Stilrichtungen seiner Zeit: Kubistisch-Orphistisches trifft auf prall Gegenständliches, daneben strengster Konstruktivismus. Das nährt leicht den tödlichen Epigonenverdacht. Doch in der räumlichen Bedrängnis lässt sich so etwas wie das Kontinuum dieser Vielfalt erkennen. Musikalisch harmonisch und elegant, ganz eigen entfalten sich das prachtvolle Spiel der Farben und eine dem Organischen abgelauschte Formensprache: Die Farben sind autonom. Die Linien sind autonom. Und doch fügen sie sich in ein stimmiges Konzert. Dabei ist egal, ob sich das im betrachtenden Auge zu Körpern rekonstruiert – wie beim deutlich an Klimt erinnernden „Paar“ von 1927 – oder eben reine Komposition bleibt. „Malerei der entfalteten Moderne“, so heißt die Werkschau. Aber der souveräne und undogmatische Umgang mit deren Errungenschaften, die bewusste Zitathaftigkeit, sie ließen sich besser als eine Prä-Postmoderne beschreiben. Dazu würde dann wenigstens auch der marginale Standort passen: die Peripherie als Zentrum.

Nein, nein, sie stamme nicht aus Delmenhorst, sagt Barbara Alms. Die Düsseldorferin wohnt auch nicht in Bremens größter Schlafstadt. Sie pendelt, so wie alle, nur in umgekehrter Richtung. Nicht einmal den Namen Stuckenberg habe sie gekannt, als sie damals ihre Stelle antrat. Geradezu planmäßig hat sie ihn dann entdeckt. „Ich habe damals Archive und Magazine durchkämmt“, schildert sie. Immer auf der hoffnungsvollen Suche nach irgendeinem großen Unbekannten mit Ortsbezug. Das sei dann Stuckenberg gewesen. „Es hätte aber auch sein können, dass es ihn gar nicht gegeben hätte.“ Schlimme Vorstellung. „Aber es gab ihn.“ Da schwingt Stolz mit. Und Erleichterung.

Wer ein großes Ziel hat, muss Temperament und Energie nicht nur besitzen, sondern auch ins zähe Umfeld ausstrahlen: Alms überzeugt die Niedersächsische Sparkassen-Stiftung vom Wert des Stuckenberg-Projekts. Auf ihr Betreiben hin gründet sich ein Freundeskreis für den Vergessenen. Auch das Museum sei gut angenommen. „Es gibt viel bürgerschaftliches Engagement.“ Mittlerweile verfügt Delmenhorst über eine bemerkenswerte Sammlung: etwa die Hälfte des Gesamtwerks, 150 Arbeiten, dazu noch 40 Grafiken der Zeitgenossen. Ein Profil, das auch neben den Traditionshäusern Bremens und Oldenburgs bestehen kann.

„Hier in Delmenhorst ist es wirklich hoffnungslos“, schreibt Stuckenberg 1929 an einen Freund. Sechs Jahre später, ein anderer Brief: „In Delmenhorst werde ich nie daheim sein.“ Er malt, hartnäckig wie Appelles, tröstet sich mit Geigenspiel und sucht die innere Erleuchtung in der kosmogonischen Lichtlehre des Theosophen Bô Yin Râ. Gerade noch rechtzeitig zum Sterben zieht er nach Horn im Allgäu, der besseren Luft halber.

Und dennoch, die Verbindung des Namens Stuckenberg mit dem des Ortes hat sich stabilisiert. Es ist eine abenteuerli- che Volte, die das Schicksal dem Kunstfreund damit bereitet: Er wird künftig, so er sich für Expressionismus interessiert, auch Delmenhorst in seinen Reiseplan aufnehmen müssen.