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Archiv-Artikel

Die Tragödie, die ist

Das Theater lässt die Wirklichkeit über seine Bretter ziehen: Fausto Paravidinos „Genua 01“ in der Schaubühne

Keine Fiktion. Nur die Wahrheit. „Alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit, nichts mehr“, flötet die junge Dame auf der Leinwand. Sie trägt eine Sonnenbrille und eine zerzauste schwarze Perücke. Und wenn sie im Kuschelton noch den Satz fallen lässt: „Matrix ist allgegenwärtig“, wissen wir, worum es geht.

Wissen wir das? Möglich, dass uns die Einsicht, die in einem in der SZ am Tag der Premiere von „Genua 01“ erschienenen Artikel Ausdruck fand, längst vertraut ist. „Keiner kann mehr die Augen davor verschließen, dass sich die demokratische Politik des 21. Jahrhunderts in einer Medienwelt der virtuellen Realität entfaltet, in der Auftritt und Schein den Vorrang vor der Wirklichkeit genießen“, schrieb da Timothy Garton Ash, Professor für Zeitgeschichte an den Universitäten Oxford und Stanford. Sein Essay hätte man im Programmheft zum Stück abdrucken können, das Wulf Twiehaus jetzt im Studio der Schaubühne zur Aufführung brachte. Als Prämisse. Denn „Genua 01“, die neueste Arbeit des Jungdramatikers Fausto Paravidino, ist die theaterpraktische Schlussfolgerung aus der professoralen Diagnose: Wenn die Medienwelt nur eine virtuelle Realität inszeniert, kann das Theater nicht umhin, die Wirklichkeit über seine Bretter ziehen zu lassen. Die nackten Fakten. „Die Tragödie, die sich nicht darstellen muss, weil sie ist.“

Wie ein Journalist hat Fausto Paravidino über die Höllentage von Genua zwischen dem 20. und dem 23. Juli 2001 recherchiert, Zeugenaussagen gesammelt, Dokumente gesichtet. Ein G-8-Gipfeltreffen unter der Regie des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi spielte sich in jenen Tagen in der ligurischen Stadt ab. Und die blutigste Straßenschlacht zwischen Globalisierungsgegnern und Polizeikräften, die die Geschichte der Weltwirtschaftsgipfel bislang gesehen hatte. Berlusconi ließ mit Nylonfäden reife Zitronen an die Bäume hängen, weil die echten ihm zu schrumpelig anmuteten, und trommelte 18.000 Beamte nach Genua zusammen. Sein Stellvertreter Gianfranco Fini, Vorsitzender der Neofaschistischen Partei Alleanza Nazionale, koordinierte aus dem dortigen Polizeihauptquartier den Einsatz der Staatsschützer. Der Rest ist jüngste Geschichte: ein 23-jähriger Toter, eine Unzahl Verletzter.

Paravidinos Text ist eine chronologische Rekonstruktion der Ereignisse. Eine chorale Anklage. Karge Sätze, die meist nur Tatsachen benennen; Sätze, die sich einhämmern und jedem Anflug von Subjektivität ausweichen. Heikler Stoff und ein Hasardspiel für die Regie – es hätte ziemlich harzig werden können. Es harzt aber nicht. Weil Twiehaus mit der Vorlage tändelt, bevor er deren Ernst, das Entsetzen, ausbrechen lässt.

Den Chor der Ungenannten – Berichterstatter, Zeugen, Opfer, Politdarsteller? –, auf vier Schauspieler verteilt, lässt er sie Schlag auf Schlag in immer neue Rollen schlüpfen. Zunächst sind sie Plappermäulchen in Tarnklamotten und mit roter Fahne im Anschlag. Sie ziehen sich Weißes über und mutieren zu „Tute Bianche“ – den pazifistischen Globalisierungsgegnern und Hauptzielen der Staatsrepression. In einen grotesk aufgebauschten Overall gestiegen, quetscht sich Jule Böwe in Autoreifen und Gummiringe hinein, schwimmt auf dem Trockenen und wird zusammengeknüppelt. Mark Waschke trällert an der Klampfe die Ziele der Protestler. Und da wir uns an diesem Abend in Berlusconis Medienreich befinden, da Twiehaus uns nicht sagen will, wo die Straßenrealität endet und wo die Glanz- und Glitzer-Welt der Bildschirme anfängt, gibt Waschke den Brüll-Showmaster ab oder stampft bildkampfbereit als Kameramann auf. Während Christin König sich eine Kochmütze aufstülpt und den Begriff No Global als Medienerfindung erklärt, muss Stephanie Eidt des Öfteren mit der Pose einer Mediaset-Moderatorin vorlieb nehmen, die beschwichtigend und geziert die Argumente der Staatsmacht vertritt. Da wird viel gebalgt und gekalbert, Paravidinos todernste Sätze segeln wie harmlose Bälle hin und her. Aber die Kinderzimmer-Ambivalenz hat mit den Trenette al pesto ein Ende, die Berlusconi seinen Gipfel-Gästen servieren ließ. Nachdem sie Jule Böwe durch ein Plastiksieb abgießt, erscheinen auf der Leinwand Bilder vom Tode Carlo Giulianis, des Jungen, der am 21. Juli 2001 baden gehen wollte, stattdessen von einem Beamten erschossen und von einem Panzerwagen platt gewalzt wurde. „Azzurro, il pomeriggio è un po’ più azzurro …“ erklingt als Erheiterungsvorschlag, man hockt aber betrübt beisammen, isst eiligst und kaut wie eine italienische Familie beim Abendbrot die Nachrichten durch. Das Theater überlässt dem Dokumentar seinen Raum. Vorüber ziehen Szenenfolgen aus der Armando-Diaz-Schule, Blutlachen, wo die Köpfe der Schlafenden lagen, die Zeugenschaft einer fassungslosen Ärztin, Mädchenstimmen aus dem Off, die von Folterungen im Polizeirevier und von faschistischen Kampfparolen erzählen. Es ist kein Schauspiel mehr. Keine Fiktion. Allein die Wahrheit.

AURELIA SORRENTO