Die Aufmüpfigkeit der Nachbarn

Dass die Deutschen auf die Veränderungen der Sozialsysteme weniger heftig reagieren als ihre Nachbarn, hat mit Streit- und Streiktraditionen zu tun, könnte sich aber bald ändern

aus Paris DOROTHEA HAHN

„Es gibt keine Alternative.“ Diesen Satz kennen wir alle. Er wird uns eingehämmert, wann immer es gilt, ein Stück öffentlichen Dienst zu privatisieren, bei Gesundheitsversorgung und Schule zu sparen, das Arbeitsrecht zu beschneiden, die Lebensarbeitszeit zu verlängern, die Rente und die Arbeitslosenversorgung zu kürzen.

Seit dem Fall der Mauer ist der Satz ein Dogma geworden. Ein einheitliches Denken, dessen sich die komplette Elite des Kontinents bedient: Von den Unternehmerverbänden über die meisten Gewerkschaften bis hin zu den Intelektuellen. Und da sich sowohl rechte als auch linke Regierungen das Dogma von Sozialabbau und Liberalisierung der Wirtschaft zu Eigen gemacht haben, schien es bereits so, als ginge es tatsächlich nicht anders.

Bis zu diesem Frühsommer. Da mucken sie plötzlich in vielen EU-Ländern auf. Die neuen sozialen Bewegungen sind – bislang – national. Aber ihre Anliegen sind länderübergreifend. Und ihre Proteste finden fast gleichzeitig statt. Von Griechenland, über Italien und Österreich bis hin nach Frankreich streiken sie. Und demonstrieren. Und verlangen, dass sozial ungerechte „Reformvorhaben“ zurückgezogen werden. Stellenweise entwickeln sie sogar Alternativen für eine Finanzierung der Sozialversicherung aus Produktivitäts- und Spekulationsgewinnen und aus einer anderen Verteilung des nationalen Reichtums. Dabei sind die Projekte in diesen Ländern bloß die Umsetzung von EU-Beschlüssen in nationale Politik. Und dabei organisieren andere EU-Länder ähnlich tiefe soziale Einschnitte – ohne dass dort irgendjemand nachhaltig protestiert.

Woran liegt es, dass die Beschäftigten in Deutschlands Nachbarländern so anders reagieren? Wie kommt es, dass ihre Gewerkschaften so aufmüpfig sind, während deutsche Gewerkschaftschefs ihrem Genossen Bundeskanzler versichern, dass sie bis zum Herbst stillhalten werden? Und woher nehmen – besonders die Franzosen, die bereits seit mehr als einem Monat protestieren – ihren langen Atem auf der Straße?

Aus Sportsgeist streikt niemand. Ein Streik ist – gerade in Frankreich – mit hohen persönlichen Risiken verbunden. Wie jede gewerkschaftliche Aktivität sind Streiks Karrierehindernissse, machen mehr Stress als die normale Arbeit und bedeuten Lohnausfall, denn es gibt keine Streikkassen. Allerdings haben die Franzosen in ihrer Geschichte vielfach eine größere Bereitschaft zum sozialen Wagnis gezeigt als ihre Nachbarn. Nicht nur bei großen Aufständen und Revolutionen – von 1789 bis hin zur Pariser Kommune, die jedes Mal auch jenseits der nationalen Grenzen zum Nachdenken und zu Nachahmeversuchen geführt haben. Sondern auch bei kleineren sozialen Bewegungen, wie den wochenlangen Streiks im Winter 1995, die das letzte Rentensparpaket einer rechten Regierung zu Fall brachten. Aus einer starken sozialen Bewegung heraus ist auch die gegenwärtige französische Sozialversicherung auf dem Solidarprinzip entstanden: Sie wurde am Ende der deutschen Besatzung vom „nationalen Widerstandsrat“, CNR, geschaffen.

Darüber hinaus gibt es konjunkturell-politische Unterschiede. Frankreich und Österreich sind in rechter Hand. Deutschland ist sozialdemokratisch-grün regiert. Auch wenn der Sozialabbau noch so ähnlich sein mag, ist die Mobilisierung von Gewerkschaften gegen eine Regierung, die politisch aus ihrem eigenen Lager kommt, immer schwierig. Das hat sich auch in Frankreich gezeigt. Da konnte der sozialdemokratische Premierminister Lionel Jospin bei einem EU-Gipfel in Barcelona der Verlängerung der Lebensarbeitszeit zustimmen, die jetzt von seinem rechten Nachfolger Raffarin umgesetzt wird, ohne dass sich damals daheim Widerstand rührte.

Anders ist auch die gewerkschaftliche Kultur. Österreich war der alten Bundesrepublik jahrzehntelang ähnlich – die Nachbarschaft zum Ostblock, ein großer und eng mit der Sozialdemokratie verbandelter Gewerkschaftsdachverband, der sich politisch zurückhielt, und relativ gute Sozialleistungen – doch dieser Konsens des Stillhaltens ist in Wien zerbrochen (siehe unterer Text).

Frankreich hingegen tickte politisch schon immer anders. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges haben sich die Franzosen eine starke radikale Linke, jenseits der Sozialdemokratie, geleistet. Sie war immer auch in der Gewerkschaftsbewegung präsent. Die Gewerkschaften sind zwar vielfach gespalten – in klassenkämpferische, in christliche, in mitbestimmungsortierte sozialdemokratische und in rechte Organisationen –, und in ihnen sind mit nicht einmal 9 Prozent der Beschäftigten viel weniger Menschen als im DGB organisiert. Aber sie waren immer kämpferisch. Dazu trug auch der gewerkschaftliche Konkurrenzkampf bei.

Vor allen Dingen aber sind es in Frankreich und in den anderen europäischen Ländern, in denen nun soziale Bewegungen aufmucken, die einfachen Beschäftigten, die den Sozialabbau nicht akzeptieren wollte. Sie treiben die Gewerkschaftsfunktionäre vor sich her. Auch deswegen dürfen sich die deutschen Gewerkschaftschefs keineswegs sicher sein, dass ihre Stillhaltepolitik gegenüber Schröder noch lange halten wird. Wenn das jetzt schon in den Nachbarländern passiert, könnten sich auch die Beschäftigten in Deutschland demnächst fragen, ob es wirklich keine Alternative gibt.