: Abiturprüfung ohne Lehreraufsicht
Heute beginnen in Frankreich die Abschlussexamen in den Gymnasien. Die Lehrer sind im Ausstand. Sie protestieren gegen Sparpläne der Regierung und die geplante Rentenreform. Die Regierung hat jetzt an den Verhandlungstisch geladen
aus Paris DOROTHEA HAHN
Pierre Darmstaedter wird heute Morgen nicht in den Klassenraum gehen. Statt seine Abiturienten bei der Prüfung zu beaufsichtigen, wird der Philosophielehrer vor der Olympe-de-Gouges-Schule in Noisy-le-Sec, östlich von Paris, auf der Straße stehen. „Wir werden uns zeigen“, sagt er, „aber wir werden das Abitur nicht blockieren.“ Gestern hat der Lehrer seine Abiturienten getroffen. Zwei Stunden hat er mit ihnen gearbeitet. Trotz Streiks: „Sie sollen das bac schaffen. Sie sind nicht verantwortlich dafür, was die Regierung macht.“
Der 42-Jährige streikt seit dem 30. April. Für ihn und ganz Frankreich ist es der bislang längste Streik der staatlichen Schulen. Und der am besten befolgte. An manchen Aktionstagen waren 80 Prozent aller Lehrer im Ausstand. Ihr Protest richtet sich gegen die Sparpläne der Regierung. Die will zu Beginn des neuen Schuljahres 10.000 der landesweit 25.000 Stellen für Aufsichtspersonen streichen.
Der Philosophielehrer argumentiert, dass dann die Gewalt an den Schulen noch zunehmen wird. Die Regierung will außerdem einen Teil der Schulfinanzierung „dezentralisieren“. „Manche der 22 französischen Regionen müssten ihre Steuern um 30 Prozent erhöhen, um das Niveau an den Schulen zu halten. Das können sie nicht. Sie müssen einen Teil der Schulen privatisieren. Damit ist es mit der Gleichheit in der Bildung vorbei.“
Schlussendlich streikt Darmstaedter auch gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die Kürzung der Renten. Der verbeamtete Philosophielehrer, der jetzt 2.000 Euro im Monat verdient und noch auf maximal 2.500 kommen kann, hat mit 27 Jahren zu arbeiten begonnen. Damit ist es für ihn unmöglich, jemals in den Genuss der vollen Rente zu kommen: „Durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf 42 Jahre werde ich 40 Prozent meiner Rente verlieren.“
Die französische Schule ist national. Unterrichtspläne, Personal, Prüfungstermine und -themen kommen aus Paris. Ihre Finanzen kommen aus der staatlichen Kasse. Diese Organisation wollen die Lehrer beibehalten.
Ihr Streik soll auch verhindern, dass infolge von Dezentralisierung und schleichender Privatisierung Unternehmer und Lokalpolitiker bei Lehrinhalten mitreden dürfen. Die Erziehung muss unabhängig sein, argumentieren sie, und das kann nur der Staat garantieren. Die Dezentralisierung wird nach ihrer Einschätzung dazu führen, dass in den armen Regionen Kunst- und Philosophieunterricht als „überflüssig“ verschwinden.
Schon im Oktober vergangenen Jahres starteten die Lehrer erste Proteste gegen die Sparpläne. Die rechte Regierung stellte auf stur – und setzte darauf, dass wütende Schüler und Eltern die Proteste zum Verstummen bringen würden. Diese Aussitzversuche sind gescheitert – auch, weil die streikenden Lehrer vielfach Vollversammlungen mit Eltern und Schülern organisiert haben. Zuletzt versprach die Regierung, die Dezentralisierung zu verschieben. Das hätte den zusätzlichen Vorteil gehabt, die Lehrerproteste von der Protestbewegung gegen die Rentenkürzung zu trennen. Auch das misslang. Vorgestern tat die Regierung, wonach die Lehrer seit Monaten verlangen: Sie lud die Lehrergewerkschaften an den Verhandlungstisch. Zwei Tage vor der ersten großen Prüfung fürs Abitur.