crime scene: Hirnrisse
Inspektor Federer ist kein besonders engagierter Polizist. Anstatt seiner Arbeit nachzugehen, hört er lieber klassische Musik, geht in der Wiener Altstadt mit seinem Dackel spazieren oder legt sich bei seinem Analytiker Dr. Bergasser gemütlich für eine Stunde auf die Couch, um die Beziehung zu seiner Mutter aufzuarbeiten. Als er sich an diesem Morgen wieder einmal in der Praxis seines Analytikers einfindet, um den Tag mit ein paar freien Assoziationen zum Thema Verlustangst zu beginnen, erlebt er allerdings eine unangenehme Überraschung. Dr. Bergasser ist über Nacht erwürgt worden. Inspektor Federer beginnt mit den Ermittlungen, die ihn mitten in die heillos zerstrittene „Wiener Gesellschaft für Psychoanalyse“ führen: „Die Notizen des Doktor Freud“ heißt der zweite Federer-Roman, den der Wiener Psychoanalytiker Hans-Otto Thomashoff geschrieben hat. Um es kurz zu machen: Das hier ist ein außerordentlich schlecht geschriebener Krimi, in dem der Anblick einer schönen Frau Inspektor Federer „ins Mark trifft“, ein Mordversuch damit endet, dass der Betroffene „mit dem Schrecken davonkommt“, und während einer Sexszene ein Körper so lange „angespannt vibriert“, bis „jeder Versuch sich zu sträuben schwindet“.
Interessant ist an diesem Buch eigentlich nur, dass immer noch jemand auf die Idee kommt, aus den etwas aus der Mode gekommenen Erkenntnissen der Psychoanalyse einen Kriminalfall zu konstruieren und ein Mordmotiv auf frühkindlichen Frustrationen und anderen verdrängten Konflikten aufzubauen. Statt für die Seele interessiert man sich nämlich heutzutage in Krimis eher für das Gehirn: Langsam lösen die Neurologen und Kognitionsforscher die altehrwürdigen Analytiker und auch die in den Neunzigerjahren so beliebten FBI-Profiler ab.
Der französische Bestseller-Autor Jean-Christophe Grangé hat mit seinem Thriller „Das Imperium der Wölfe“ ein äußerst spannendes Beispiel dafür geliefert. Anna Heymes, die Frau eines hohen Pariser Polizeibeamten, leidet unter beunruhigenden Gedächtnisstörungen. Sie erkennt vertraute Gesichter nicht mehr, und sogar ihr eigener Mann sieht für sie aus wie ein Fremder. Ein Neurologe, der mit ihrem Mann befreundet ist, diagnostiziert eine Fehlfunktion in der „Gesichterzone“, den Neuronenverbänden also, die sich „an der unteren Seite des Temporallappens“ befinden und die für das Personengedächtnis zuständig sind. Als der Arzt jedoch eine „stereotaktische Biopsie“ vorschlägt – also ein Loch in ihren Kopf bohren will – entschließt Anna sich, eine zweite Meinung einzuholen. Nach und nach erfährt sie so, dass sie nicht unter einer geheimnisvollen Krankheit leidet, sondern Opfer eines grausamen Experiments ist: Anna Heymes sind die Erinnerungen eines anderen Menschen eingepflanzt worden mit Hilfe einer Methode, die sich auf die tatsächlich fortschreitende Kartierung des menschlichen Gehirn gründet. Doch wenn „Anna Heymes“ nur ein künstlich in ihrem Temporallappen verankertes Konstrukt ist, wer ist dann die Frau, die sie morgens im Spiegel ansieht, wirklich?
Grangé, der in Deutschland unter anderem durch die Verfilmung seines Romans „Die purpurnen Flüsse“ bekannt wurde, benutzt das neurologische Experiment selbstverständlich in erster Linie als Trigger für einen actiongeladenen Krimi mit brutalen Morden, korrupten Polizisten –und verstörenden Bildern aus dem traurigen Alltag türkischer Einwanderer in Frankreich. Anna muss nämlich erfahren, dass es in ihrem früheren Leben eine Verbindung zur türkischen Mafia gab.
Besonders beruhigend sind diese Einsichten in ihr „wahres Ich“ natürlich nicht, und in dieser Hinsicht gleichen sich die psychoanalytischen Krimis der alten Schule und die aktuellen Neurothriller dann doch sehr: Erkenntnis kann sehr grausam sein. KOLJA MENSING
Hans-Otto Thomashoff: „Die Notizen des Doktor Freud“. Deuticke, 181 S., 17,90 EuroJean-Christophe Grangé: „Das Imperium der Wölfe“. Aus dem Französischen von Christiane Landgrebe. Ehrenwirth, München 2004, 446 S., 19,90 Euro
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