Holocaust Survival Kit

Man muss nicht jüdisch sein, um traumatisiert zu sein, aber es hilft: In Lukas Stepaniks und Robert Schindels Film „Gebürtig“ flüchten sich die österreichischen Holocaust-Überlebenden in den schwarzen Humor. Jede Pointe erzählt von einer Verletzung

VON ANDREAS BUSCHE

Jeder macht sich sein eigenes Bild vom Holocaust – so gut er kann. Zum Beispiel der Hollywoodregisseur, der in Österreich einen „Konzentrationslager“-Film drehen will. „Nicht jüdisch genug“, bürstet er einen Castingteilnehmer ab, der sich für eine Rolle als KZ-Insasse vorstellt. „Nicht jüdisch genug?“, entgegnet der Abgewiesene kopfschüttelnd. „Dem Hitler war ich jüdisch genug.“

Ein anderer Österreicher sitzt in einem New Yorker Loft aufgebracht an seinem Klavier und klimpert auf den Tasten. „Mein Agent will, dass ich ihm KZ-Musik komponiere. Ebenso könnte ich an der Brause von Birkenau hängen und eine Erstickungssymphonie schreiben.“ Die passenden Worte zu finden für das Unvorstellbare, das sich jeder Beschreibbarkeit entzieht, muss bis heute den Betroffenen überlassen bleiben. An ihrer Sprache soll unser Bewusstsein sich ausbilden. In „Gebürtig“ bringt ihr Sarkasmus eine ganze Erfahrungswelt zwischen sich und die Ahnungslosen. Distanz. Die anderen Leute versuchen ja zu begreifen, aber ihr Taktgefühl muss zwangsläufig wie eine Obszönität wirken. „Ich interessiere mich für die jüdische Kultur“, erzählt der deutsche Journalist Konrad Sachs (Daniel Olbrychski). „Nun ja“, antwortet Daniel Demant (August Zirner), der in Wien als Kabarettist arbeitet, „manche interessieren sich für Rock’n’Roll, andere für Pornofilme.“ Jede Pointe erzählt von einer Verletzung. Als Opfer unter Opfern, einem Land voll selbst erklärter Opfer, haben die österreichischen Juden ihre Lektion aus der Geschichte gelernt.

Einer ganzen Generation von Holocaust-Betroffenen verleiht „Gebürtig“ eine Stimme, und nur bei Woody Allen ist der Ton in letzter Zeit ähnlich scharf gewesen. In „Anything Else“ ist Allens Figur David Dobel so tief vom jüdischen Trauma gezeichnet, dass er nicht mehr ohne sein „Holocaust Survival Kit“ aus dem Haus geht. „Man muss nicht jüdisch sein, um traumatisiert zu sein“, lautet ein Ausspruch Allens, der auch im Presseheft von „Gebürtig“ zitiert wird, „aber es hilft.“

Auch die alte Tante Psychoanalyse, die große jüdische Weltdeutungsmaschine, hat längst die Waffen gestreckt. „Psychoanalytiker?“, lacht Sachs grimmig. „Die sind doch alle aus Deutschland und Österreich verschwunden, seit …“. Witze verraten in „Gebürtig“ mehr über die Verfassung der Menschen als deren fahrige Gesten oder die fahlen Gesichter im Angesicht der Gespenster der Vergangenheit. Mehr noch haben die Pointen hier selbst die Rolle der Schreckgespenster angenommen.

Sachs erscheinen sie in Form seines in Nürnberg zum Tode verurteilten Vaters, eines ehemaligen KZ-Arztes. Sachs schwitzt und blutet und verfällt in immer lebhaftere Wahnfantasien. „Willst du mir Schweinereien erzählen?“, fragt ihn eine Nutte, sich lasziv auf dem Bett räkelnd. „Mein Vater war bei der SS“, beginnt Sachs. Gibt es eine größere Schweinerei? Das Missverständnis zwischen Sachs und der Nutte ist in Wirklichkeit keines, hinter den Worten kommt nur deren semantische Monstrosität zum Vorschein. Niemand kann sich in „Gebürtig“ mehr hinter seiner Sprache verschanzen. Sie liegt offen da und ist doch ohne Schuld. Schuldig macht sich allenfalls ihr Benutzer.

Die Rolle als KZ-Versuchskaninchen im Hollywoodfilm erhält schließlich Demant. Aber der Irrsinn eines Holocaustfilms mit seinen nachempfundenen KZ-Kulissen ist schier unerträglich; erst recht, wenn man für die traumatische Erfahrung selbst noch keine Begriffswerkzeuge gefunden hat. Demant verschwindet heimlich über den Acker, lässt den Ort des Grauens hinter sich. Seine Exfreundin Susanne versucht in der Zwischenzeit, den österreichischen Starkomponisten Hermann Gebirtig (Peter Simonischek), der einen ganzen Ozean zwischen sich und die Mörder seiner Eltern gebracht hat, zu überreden, als Hauptzeuge im Prozess gegen den berüchtigten „Schädelknacker von Ebensee“ auszusagen.

Aber es gibt keine Gerechtigkeit mehr, weiß Gebirtig – ebenso wenig wie Genugtung oder Reue. Am Ende wird der Nazi-Verbrecher von seiner Schuld freigesprochen, und Gebirtig sitzt wieder vor seinem Klavier in New York. „Es gibt genau drei Worte“, hatte er am Anfang des Filmes gesagt, „die mich nicht nach Österreich zurückbringen: Jetzt erst recht!“

1992 erschien Robert Schindels Roman „Gebürtig“ genau in der Halbzeit zwischen Waldheim-Affäre und Haider-Boom. Angesiedelt im Wien des Jahres 1987, das Jahr, in dem das amerikanische Justizministerium den gerade zum Bundespräsidenten gewählten Kurt Waldheim wegen seiner NS-Vergangenheit unter Beobachtung stellte, fühlte Schindels bitterer Gesellschaftsroman dem Gewissen seiner Landsleuten auf den Zahn. „Jetzt erst recht“ hieß ein Jahr zuvor das kämpferische Wahlkampfmotto Waldheims, nachdem die Bekanntgabe seiner Kandidatur internationale Proteste ausgelöst hatte. Waldheim gewann die Wahl - aber nicht trotz NS-Vergangenheit, behauptete Schindel, sondern gerade wegen.

Schindel, der zusammen mit Lukas Stepanik auch für die Verfilmung seines Romans verantwortlich zeichnet, liefert mit „Gebürtig“ ein deprimierendes Bild der österreichischen Mentalität: aufbauend auf der großen Lüge vom Opfervolk hat man es geschafft, sogar noch die wahren NS-Opfer zu verachten.

Die sentimentale Ader des Films kann dabei nicht über Schindels Furor hinwegtäuschen. Sein Kaffeehaus-Schmähsprech stößt sich an der österreichischen Selbstgefälligkeit. Wie leicht es in solch einem gesellschaftlichen Klima fällt, den Holocaust als historischen Fehltritt abzuwiegeln, zeigen Schindel und Stepanik mit einem einzigen kurzen Satz. Er fällt zwischen Gebirtig und einem Kindheitsfreund, dem Sohn des ehemaligen Nazi-Hausmeisters – die grandiose Selbstlüge der Österreicher, ohne rhetorische Doppelbödigkeiten: „Man wird klüger am Ende“, sagt der Sohn zu Gebirtig, „also nix für ungut.“ Nix für ungut. Drei harmlose Worte aneinander gereiht, grausam in ihrer Konsequenz.

„Gebürtig“. Regie: Lukas Stepanik und Robert Schindel. Ö/D./ 2002, 115 Min. Nach dem Roman von Robert Schindel. Mit Ruth Rieser, August Zirner u. a.