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Archiv-Artikel

Zwanzig Minuten am Strick

Judke Taggar war Spion für den Mossad in Bagdad. Ein dreiviertel Jahr. Dann flog er auf und landete im Gefängnis. Mehr als neun Jahre. Eine Erinnerung

von SUSANNE KNAUL

Irgendjemand muss sich an ihn erinnert haben. Als am 23. März im Irak fünf amerikanische Soldaten in Gefangenschaft gerieten, suchte die israelische Talkshow „Popolitika“ einen Experten für ihre aktuelle Sendung. Sie fand Judke Taggar. „Sie saßen doch auch mal in einem irakischen Gefängnis“, eröffnet der Moderator das Gespräch. Als Taggar seine Geschichte erzählt, wird es still im Studio.

Ein dreiviertel Jahr spionierte Judke Taggar Ende der Vierzigerjahre für den Mossad, den israelischen Geheimdienst, im Irak. Dann flog er auf. Er wurde gefoltert und fast gehängt. Doch Taggar hatte Glück. Nach mehr als neun Jahren Haft wurde er begnadigt.

Damals war Taggar ein Held. Heute ist er Pensionär und lebt in Tel Aviv. Ein Journalist hat ein Buch über ihn geschrieben, das längst nicht mehr im Handel ist. Der zwanzigminütige Dokumentarfilm über Israels Mann in Bagdad verstaubt im Archiv des Geheimdienstes. Bis zu dem kurzen Fernsehauftritt in „Popolitika“ erschien er nicht mehr in der Öffentlichkeit.

Taggar rührt in dem „besten Kaffee, der in diesem Viertel von Tel Aviv zu kriegen ist“. Ohne Studiolicht erscheint er schmächtig, fast unscheinbar. Bis auf seine Augen. Die lächeln ununterbrochen, auch wenn er von Folter und Exekutionen redet. Es war „nicht angenehm“, sagt der ehemalige Dozent für Nahoststudien und wechselt das Thema.

Unmittelbar nach dem Unabhängigkeitskrieg 1948 schickte ihn die Regierung als Militärgouverneur in die Stadt Akko, in der sich arabische und jüdische Kultur treffen. Der 24-Jährige sollte sich auf seine Mission vorbereiten: Spionage in Bagdad.

Knapp sieben Jahre zuvor, im Juni 1941, hatte das erste grausame Pogrom hundertsiebzig irakische Juden das Leben gekostet. Sie wurden Opfer innenpolitischer Instabilität sowie der Versuche des damaligen Armeeführers Raschid Ali al-Gailani, eine pro-nazideutsche Politik zu demonstrieren. Die Situation der Juden im Irak wurde zunehmend kritisch.

„Wir wussten, dass vor allem diejenigen zu Tode gekommen waren, die sich nicht verteidigt hatten“, berichtet Taggar. Deswegen sollte er den Leuten Selbstverteidigung beibringen und ihre Auswanderung nach Israel vorbereiten. Rund hundertdreißigtausend Juden lebten zu dieser Zeit noch im Irak.

Tagger, der wenig Arabisch und überhaupt kein Persisch sprach, wurde mit einem iranischen Pass, „den man damals kaufen konnte“, ausgestattet und reiste via Teheran nach Bagdad. „Wenn mich an der Grenze jemand auf Persisch angesprochen hätte, wäre ich schon aufgeflogen.“

Er gab an, Teppichhändler zu sein, mietete ein Zimmer und nahm seine Arbeit auf. Niemand kümmerte sich um ihn. Deswegen fiel wohl auch nicht auf, dass Taggar überhaupt keine Teppiche zum Verkauf anbot. Bis er nach acht Monaten zufällig auf einen alten Bekannten traf. „Es war ein Araber, der für die israelische Militärverwaltung in Akko Botengänge machte“, erinnerte sich Taggar.

„Er stand eines Tages mit zwei Polizisten vor mir. Er deutete mit dem Finger auf mich und sagte: Das ist ein Israeli.“ Taggar, für den in diesem Moment ein unendlich schwerer Leidensweg begann, berichtet ohne jeden Hass über den ehemaligen Dienstboten, der schließlich „auch nur seine Arbeit gemacht hat“.

Fast ist er ihm heute dankbar. Denn in einer unbeobachteten Sekunde sei der Araber an Taggar herangetreten und habe gesagt: „Du weißt, dass ich dich ausliefern musste. Aber wenn eines Tages die israelische Armee nach Bagdad kommt, dann vergiss nicht, dass ich verschwiegen habe, dass du Offizier warst.“ Taggar glaubt, dass sein Verräter ihm mit dieser Verschwiegenheit das Leben gerettet habe.

Zwei Wochen lang wurde der Spion nahezu ununterbrochen gefoltert. Die Hände in Ketten, die an der Decke befestigt waren, so dass er mit den Füßen über dem Boden hing. „So ist es immer ein doppelter Schmerz – der Schlag und die Ketten, die dir die Hände abzureißen drohen.“ Als einer seiner beiden Folterknechte einmal das Zimmer verließ, stellte der andere die Schläge ein. Wie der ehemalige Bote hatte auch er Angst vor der israelischen Armee: „Wenn eure Soldaten kommen, denk dran, dass ich dich nicht geschlagen habe, als wir allein waren“, habe er gesagt.

Für das Verhör legte sich Taggar selbst eine „rote Linie“ fest, die er nicht übertreten wollte: keine Namen und keine Informationen über die technischen Übermittlungswege. Nichts, was die Vorbereitungen der jüdischen Emigration hätte schaden können.

Nach der Folter schleppten die irakischen Geheimdienstler den Gefangenen zu einem Waffenversteck. „Du bist überführt“, sagten sie zu ihm. „Morgen früh wirst du aufgehängt.“ Taggar forderte einen Prozess – vergeblich.

„Sie brachten mich zum Galgen und wollten mir einen schwarzen Sack über den Kopf stülpen. Das habe ich abgelehnt. Das war nicht heldenhaft.“ Der Henker legte ihm den Strick um den Hals, nahm ihm die Armbanduhr ab und wartete auf das Kommando des Gefängnisdirektors, der sich auf einen Stuhl auf dem Hinrichtungsplatz setzte. „Mein Herz zog sich zusammen. Ich fühlte eine quälende Last, dachte an meine Mutter und sprach leise das ‚Schmah Israel‘ “ – das Hauptgebet der Juden.

Zwanzig Minuten stand Taggar mit dem Strick um den Hals auf einer Holztür, die jeden Moment nachgeben konnte. Dann signalisierte der Gefängnisdirektor dem Henker, den Strick wieder zu lockern. Taggar forderte als Erstes seine Uhr zurück. „Sie hatten nicht vor, mich hinzurichten“, wurde ihm später klar. „Es war ein letzter Versuch, mich zu brechen.“ Doch das Gegenteil war der Fall: „Ich hatte von diesem Tag an keine Angst mehr.“

Erst jetzt wurde ihm der Prozess gemacht. Illegaler Waffenbesitz, Mitgliedschaft in feindlichen Organisationen, Zionismus und Anarchismus standen auf der Anklageschrift. Lebenslange Haft plus 25 Jahre, so lautete das Urteil für den israelischen Spion.

Für weitere achtzehn Monate saß Taggar in einer Zelle, die für zum Tode Verurteilten vorgesehen war. Rund zweihundert Männer waren in dieser Zeit für jeweils etwa eine Woche in einer der winzigen Zellen inhaftiert. Gut ein Drittel davon sei hingerichtet worden. „Ich habe die Exekutionen gesehen und die Folterungen.“ Eine der üblichen Strafmaßnahmen seien Schläge auf Hände und Füße gewesen. Erst sieben, dann siebzig, dann siebenhundert, „was aber niemand überleben konnte“.

Der Henker führte die Strafe aus. Mit ihm freundete sich Taggar fast an. „Wir hatten immer reichlich und gut zu essen. Das stand den Männern zu, die am nächsten Tag hingerichtet wurden. Mit dem Essen konnten wir den Henker und unsere Wärter bestechen.“ Der Henker erklärte den Gefangenen, dass er für jede Hinrichtung zwei Dinar (etwa drei Euro) bekomme, von denen er die Hälfte an den Gefängnisdirektor abtreten müsse. „Wenn ich eines Tages vor meinem Schöpfer trete“ – erinnert sich Taggar an die Worte des Henkers – „wird er sagen: Du hast so viele Menschen hingerichtet, und das alles für einen Dinar?“ Er wollte mehr Geld.

Doch Taggar lernte auch andere Menschen im Gefängnis kennen. Zum Beispiel gegen Ende der Fünfzigerjahre Saddam Hussein, der wegen versuchter Ermordung des irakischen Diktators General Kassim saß. „Ich habe aber nicht sonderlich auf ihn geachtet.“

Irgendwann einmal, so wünscht sich Taggar, will er als Tourist nach Bagdad fahren. Dann würde er vor allem einen Mann wiedersehen wollen: Chalil Abu el Hob.

„Er war eine Art moderner Robin Hood“, erklärt Taggar. Das Verbrechen el Hobs empfindet er als „fast verzeihlich“, denn el Hob tötete einen Großgrundbesitzer, der seine Pächter – darunter auch el Hobs Vater – ausbeutete.

Hochgewachsen mit breitem Schnurrbart“, habe er unter den Gefangenen großes Ansehen genossen. Der Gefängnisdirektor versuchte vergeblich, den stolzen Mann mit Hilfe von Peitschenschlägen zu brechen. Taggar versorgte anschließend die Wunden. Den Erstehilfekasten hat er bis heute aufbewahrt. Eine kleine Blechkiste mit Watte, Pflaster und einer Art Wachsstift zum Stopfen von Zahnlöchern.

Das einzige Andenken an seine Haftzeit.

Gemeinsam wurden sie kurze Zeit später in ein Gefängnis nach Kerbala gebracht, die heilige islamische Stadt, die eigentlich für Juden verboten ist. Hier verbrachten Neuankömmlinge gewöhnlich die erste Zellennacht neben der Tür, wo auch der Eimer stand, in den die Häftlinge ihre Bedürfnisse verrichteten. „Es war üblich, dass sie nicht in den Eimer, sondern auf die neuen Zellengenossen pinkelten.“ Taggar war gerade dabei, seine Decke neben dem Eimer auszubreiten, als Chalil Abu el Hob „nur durch ein Zeichen“ seine natürliche Autorität bewies. Er setzte durch, dass die anderen Männern den beiden Neuen den „begehrtesten Platz“ unterm Fenster freiräumten.

Diese Freundschaft rettete Taggar kurze Zeit später vermutlich sogar das Leben. Er war, „ohne darüber nachzudenken“, an einem heißen Tag zu dem Wassertrog der Gefangenen gegangen, hatte die Kelle genommen, sie an den Mund geführt und wieder zurück in den Trog gelegt. Ein islamischer Gelehrter, der diese „Verunreinigung“ des Wassers durch einen Juden beobachtet hatte, warf darauf den Trog um und forderte neues Wasser. Die Wachposten lehnten ab.

„Ich sah, wie sich die Männer, es müssen vielleicht hundertfünzig gewesen sein, wütend auf mich zubewegten“, erzählt Taggar und sieht dabei aus, als durchlebe er die Angst noch einmal. „Ich rannte zu einem Zaun, um Deckung zu suchen, als Chalil Abu el Hob ganz langsam seinen Schuh auszog, ihn in die Höhe hob und sich damit vor mich stellte.“

Neuneinhalb Jahre saß Taggar im Gefängniss. Dann, 1960, wurde er schließlich begnadigt – ein Handel, der vermutlich nur in den Jahren möglich war, als Israel und Irak durch einen gemeinsamen Feind verbunden waren: den ägyptischen Panarabisten Gamal Abdel-Nasser.

Bei seiner Ankunft auf dem Flughafen sei er unverändert gewesen, erzählt Taggars Schwester in der Filmdokumentation aus dem Archiv des Mossad. „Er hat wie immer gelächelt.“

Und seine Lehren? Was hat Taggar denn nun in „Popolitika“ den amerikanischen Soldaten in irakischer Gefangenschaft geraten? „Niemals das Vertrauen aufgeben, dass dich der Staat, der dich auf die Mission schickt, auch wieder herausboxen wird“, antwortete Taggar, ohne zu zögern.

SUSANNE KNAUL, 42, ist seit 1998 taz-Korrespondentin für Israel und die palästinensischen Autonomiegebiete