SCHEIBENGERICHT – NEUE PLATTEN, KURZ BESPROCHEN VON BJÖRN GOTTSTEIN : Gut gestimmt
Hector Berlioz: „Roméo et Juliette.“ The Cleveland Orchestra and Chorus. Pierre Boulez (DGG 474 237-2)
Es fängt ja schon mit der Gattung an. „Roméo et Juliette. Eine dramatische Sinfonie“ liest man da. Der Komponist weiß offenbar nicht recht, was er will: den diskursiven Geist der beethovenschen Sinfonik oder den dramatischen Esprit der gluckschen Oper. An dieser Unentschlossenheit schreibt sich die geplagte Musikwissenschaft bis heute die Finger wund. Hector Berlioz (1803–1869) ist mehr Konzeptualist als musikalischer Analytiker gewesen. Auch in seinem 1867 uraufgeführten, abendfüllenden „Roméo et Juliette“ reiht er die Ideen mehr aneinander, als dass er sie entwickelt und entfaltet.
Nun hat die Deutsche Grammophon eine Neueinspielung dieses Stücks musikalischer Vormoderne veröffentlicht. Am Pult des Cleveland Orchestras steht ein Vertreter der musikalischen Spätmoderne, nämlich Pierre Boulez. Boulez verlässt sich beim Dirigieren auf eine Praxis, die sich nicht schlecht bewährt hat: Erst wird sorgfältig gestimmt, und dann halten sich alle gefälligst und peinlich genau an den Notentext. Dadurch gewinnt die Interpretation nicht gerade an Humor und Leidenschaft. Aber man fühlt sich gut aufgehoben zwischen üppigem Liebesfest und karg instrumentiertem Lamento, deren Farben Boulez mit der ihm eigenen musikalischen Analytik herausarbeitet. Eine ausgezeichnete Einspielung, die man jedem, der sonst vielleicht nur mit der „Symphonie fantastique“ vertraut ist, ans Herz legt.
In tiefen Registern
Giacinto Scelsi: „Werke für Klavier.“ Markus Hinterhäuser – Klavier (col legno WWE 1CD 20068); Giacinto Scelsi: „Action Music.“ Bernhard Wambach – Klavier (Kairos 0012312KAI)
Man hat ihn erst einmal einige Jahrzehnte lang ignoriert, um den italienischen Sonderling in den Achtzigerjahren dann mit großem Popei zu entdecken. Heute ist Giacinto Scelsi (1905–88) ein echtes Markenzeichen der neuen Musik: wabernde Eintonmusik mit meditativem Flair. Und obschon die nach innen geweiteten Klangflächen, die Scelsi in den späten Fünfzigerjahren entworfen hatte, zu seinen wichtigsten und originellsten Kompositionen gehören, tat man ihm Unrecht, als man ihn auf diese Schaffensphase reduzierte.
Jetzt sind gleich zwei CDs mit frühen Klavierwerken erschienen, die dieses Bild korrigieren. Die eine enthält eine wilde, an Jackson Pollock gemahnende „Action Music“, die andere pianistische Gesänge der frühen Fünfzigerjahre. Auf beiden CDs findet sich außerdem die 1952 entstandene Klaviersuite Nr. 8 mit dem tibetanischen Beinamen „Bot-Ba“. Scelsi übt sich im spirituellen Gebet und entwirft – unter schweren und finsteren Akkorden – eine fernöstliche Klosteridylle. Der Pianist Bernhard Wambach greift dieses Idyll bereitwillig auf. Er hüllt sich, mit viel Pedal, in dicke Klangwolken und vergräbt sich geradezu in den tiefen Registern des Instruments. Markus Hinterhäuser, wie Wambach einer der großen Pianisten zeitgenössischer Musik, geht da zurückhaltender vor. Sein Klavier ist behutsamer mikrofoniert und gewinnt gerade dadurch an Schärfe. Ja, Scelsi wirkt bei Hinterhäuser bisweilen geradezu aggressiv, wenn sich die dissonanten Akkorde im Nachhall aneinander reiben. Wambach ist dem scelsischen Klangideal näher. Die interessanteren, weil freizügigeren und persönlicheren Aufnahmen sind Hinterhäuser gelungen.
Nackte Stimmen
Claude Vivier: „Chants.“ Les jeunes solistes. Rachid Safir (Soupir S 206)
Radikal komponieren heißt nicht, dass man gleich mit dem Vorschlaghammer ein Klavier zertrümmert. Bei Claude Vivier (1948–1983) bedeutet Radikalität Reduktion. Nicht im Sinne abgedroschener Verweigerungs- und Verstummungsästhetiken, sondern als Fokussierung und Konzentration. Bei Vivier werden Konzepte wie Melodie und Harmonie nicht außer Kraft gesetzt, sondern ausgebaut, differenziert und verfeinert. Vivier wuchs als Waise in einem kanadischen Kloster auf und kam 1971 nach Europa, um bei Stockhausen zu studieren. Bis zu seinem jähen Tod – er wurde ermordet in seiner Pariser Wohnung gefunden – blieb er ein Suchender.
Bekannt sind heute vor allem die musikalischen Reisebilder des Nahen und Fernen Ostens. In den Siebzigerjahren hatte Vivier aber auch eine Reihe von Chorwerken geschrieben, mit Textbezügen zwischen Religiosität und Liebesschmerz. Nur wenige Komponisten wissen, wie man die nackten Stimmen eines Vokalensembles mit Harmonien bekleidet. Und kaum ein Chor versteht es, ein solches harmonisches Gewand dann auch auszufüllen. In diesen Aufnahmen mit den Jeunes Solistes treffen ein solcher Komponist und ein solcher Chor zusammen. Manche Stücke, das kurze „Jesus, erbarme dich“ etwa, geraten fast ein wenig glatt. Aber spätestens in dem 1977 entstandenen „Journal“ rauen die gesprochenen Einschübe, das rasselnde Schlagwerk und alltägliche Vokalgesten wie Lachen, Weinen und Seufzen, den harmonischen Feinschliff auf. Vivier spiegelt die psychische Tiefe des Leidens, ohne auf den klassischen Ton als Ausdrucksträger zu verzichten. Und das ist auch eine Form von Radikalität.
Klaustrophobisch
Iannis Xenakis: diverse Interpreten (Edition RZ 1015-16); Iannis Xenakis: „Kraanerg.“ Sinfonieorchester Basel. Alexander Winterson. col legno WWE 1CD 20217
Mit beängstigendem Fleiß veröffentlicht die Edition RZ seit Jahren Rara aus den Schallarchiven dieser Welt, von denen man nicht nur vorher nicht wusste, dass es sie gab, sondern auch hinterher nicht, wie man ohne sie diese Musik überhaupt hat wertschätzen können. Jüngster Coup des Labels ist eine Doppel-CD mit Werken von Iannis Xenakis. Die hier versammelten Stücke entstanden zwischen 1956 und 1971, in einer Phase, in der Xenakis seine mathematischen Konstruktivismen mit historischen und wahrnehmungspsychologischen Aspekten anreicherte.
In „Nomos Gamma“ und „Terretektorh“, bei denen das Publikum vom Orchester eingekesselt wird, unterliegt wohl noch der holzherzigste Hörer der akustischen Klaustrophobie. In den beiden „Polytopen“, spektakulären Licht- und Klangkompositionen, ist es der Schmerz gleißender und greller Klangstrahlen, die einen die Augen reiben lassen. Die Musik von Xenakis kehrt das Ritualistische und Urwüchsige des Klangs nach außen. Das wusste man zwar schon, bevor diese CD erschienen war; die hier versammelten Aufnahmen, die oft im Umfeld des Komponisten entstanden, führen es allerdings mit einer durchdringenden Kraft vor, wodurch sich diese Veröffentlichung vor jeder anderen empfiehlt.
Zeitgleich erschienen ist außerdem eine Neueinspielung des monumentalen Ballettstücks „Kraanerg“, das bislang nur in einer soliden, aber insgesamt grau verwaschenen Aufnahme zu haben war. Alexander Winterson und das Sinfonieorchester Basel setzen stattdessen auf Transparenz und ein luzides Klangbild, was dem Stück allerdings nicht recht steht. Der Tumult, das verworrene Rauschen, die verlorene Ferne – all das geht in dieser Aufnahme verloren, womit es immer noch keine treffende Einspielung dieses Stücks gibt.
Große Kunst
Olga Neuwirth: Bählamms Fest Klangforum Wien. Johannes Kalitzke (Kairos 0012342KAI)
Henry, der Hund, schlägt an. Aus Angst vor dem Sohn seiner Herrin. „Angst vor deinem eigenen Sohn!“, höhnt diese. Schon beim Lesen der Inhaltsangabe wird klar, dass es hier nicht mit rechten Dingen zugeht. Hier, das ist die Oper „Bählamms Fest“ von Olga Neuwirth (*1968), die nach einem Theaterstück von Leonora Carrington entstand, einer Dramatikerin des Surrealismus. Und in deren verworrenem Familiendrama „Bählamms Fest“ wirbeln Geschlechter und Arten ein wenig durcheinander. Da kann es schon mal passieren, dass Hund und Herrin leidenschaftlich aneinander geraten. Man könnte also von einer surrealistischen Oper sprechen. Nur hat es einen musikalischen Surrealismus nie gegeben. Und er käme wohl ein paar Jahrzehnte zu spät, wollte man ihn jetzt einläuten.
Aber Olga Neuwirth mochte es schon immer ein wenig schrill. Und der Stoff steht dem Tableau ihrer Klangabsurditäten nicht schlecht. Ja, die musikalischen Kollisionen, die Neuwirth einst berühmt machten und die sie hier gütlich ausreizt, steigern den überwirklichen Zug der Vorlage noch. Tolles Stimmmorphing wie im Horrorfilm, versteckte Lächerlichkeiten wie das überdimensionierte Glucksen einer sich leerenden Flasche oder verträumte Thereminsequenzen im Kinderzimmer – das ist große Kunst und großer Spaß. „Bählamms Fest“ kommt auf CD fast besser zur Geltung als auf der Bühne, wo die Regisseure das Stück oft glauben überzeichnen zu müssen. Da mehr gesprochen als gesungen wird, kann man der Handlung auch ohne Griff zum Textbuch folgen.
Minuskel-Musik
Alessandro Bosetti & Annette Krebs (Grob 540). Werner Dafeldecker & Klaus Lang: Lichtgeschwindigkeit (Grob 541)
Nichtstun ist auch eine Kunst. Das ist keine Parole der Werbeindustrie, sondern eine mühsam erworbene Erkenntnis, die sich beim Hören der 243. und 244. CD mit experimenteller improvisierter Musik endlich einstellte. Musiker, die in den letzten Jahren eine überzeugende Synthese aus Freejazz und John Cage, aus Freiheit und Epistemologie also, entwickelt haben, halten es leise. Es ist Musik, für die man den schönen Namen „lower case music“ erfunden hat – Minuskel-Musik. Oft passiert wenig, zuweilen gar nichts. Aber unter den Geräuschimplosionen besteht doch immer ein Zusammenhang, eine Dramaturgie.
Der Saxofonist und die Gitarristin Annette Krebs gehören zu den Exponenten des Metiers. Sie arbeiten mit small sounds und verhaltenen Geräuschklängen. Ihre CD setzt sich keineswegs vom Jargon des Genres ab, sondern fasst eher einen jahrelangen Prozess zusammen: kleine Geschichten aus Knistern und Rauschen, konzentriert vorgetragen und vom Ernst geweiht. Werner Dafeldecker und Klaus Lang gehen da rustikaler vor. Ihre gemeinsame CD „Lichtgeschwindigkeit“ besteht im Wesentlichen aus zwei Klängen: einem Orgel-Drone und einem gestrichenen Kontrabasston. Man kann diese CD wie ein akustisches Möbel verwenden, das das Ambiente mit dem knirschenden Unbehagen changierender Obertonspektren ausstaffiert. Oder man hört sie als einen Beitrag zum musikalischen Erhabenen, um sich von der Weite des akustischen Horizonts hypnotisieren zu lassen.