BERNHARD PÖTTER über KINDER
: Alle sind gleich. Einige sind ungleicher

Von Kindern lernen: Woran der Sozialismus in Deutschland gescheitert ist (Folge 2): Gleichheit

Die Beule war nicht zu übersehen. Aus Jonas’ Stirn wuchs ein blaugrünes Horn. „Ich bin ausgerutscht und auf den Boden geknallt“, sagte mein Sohn. „Wir mussten doch gegen die von drüben kämpfen.“

Die von drüben?

„Na, die aus der Gruppe neben uns“, erklärte Jonas mir die Gefechtslage im Kindergarten. „Die greifen uns immer an. Die sind unsere Feinde.“

Die von drüben sind unsere Feinde? Sind wir schon wieder so weit? Bisher dachten wir, bei unseren Kindern herrsche die klassenlose Gesellschaft. Gleiche Rechte, gleiche Pflichten. An die Wand gegenüber dem Kindergarten hat jemand gesprüht: „Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.“ Das wäre schön.

Aber wenn der Sprayer sich einmal im Kindergarten umsähe, würde er sehen: Die Grenze verläuft weder zwischen den Völkern noch zwischen oben und unten. Sondern zwischen uns und denen von drüben.

Dabei sind Kinder ja eigentlich die großen Gleichmacher. Wie niemand sonst verwirklichen sie die alte Forderung nach „Gleichheit“. Für sie ist es egal, ob ihre Freunde schwarz oder weiß sind. Genau wie die Schweden duzen sie auch den Premierminister. Und sie nehmen Fruchtbonbons wirklich von jedem.

Keine Herren, keine Knechte, keine Ausbeuter und keine Ausgebeuteten – dieses Credo kommt bei den Knilchen gut an. Aber Gleichheit heißt ja auch, den anderen die gleichen Bedürfnisse zu erlauben wie sich selbst. Zu sehen, dass der kleine Bruder im Ernstfall das Recht auf ein genau so großes Stück Smarties-Torte hat. Das zu beherzigen, ist für Ego-Monster schwierig. Fast wie öffentliche Selbstkritik auf dem Parteitag.

Für George Orwell, den alten Sozialisten, war klar: Die klassenlose Gesellschaft ist ein Traum, auch wenn sie offiziell ausgerufen wird. Seine Tierfabel „Farm der Tiere“ erzählt diese Erfahrungen aus der bolschewistischen Revolution in Russland. Einer der zentralen Sätze ist auch heute noch aktuell: „Alle Tiere sind gleich. Aber einige sind gleicher.“

Tina würde Orwell widersprechen. Für eine Zweieinhalbjährige ist vor allem eines wichtig: Einige sind ungleicher. Vor allem, wenn meine Tochter andere Kinder sieht, die deutlich älter sind und noch im Kinderwagen sitzen: „Guck mal, Baby!“, ruft sie dann. Tina hat jemanden, auf den sie herabschauen kann, jemanden, der auf der Entwicklungsstufe unter ihr steht. Haben Sie sich noch nie gewundert, warum kleine Kinder Babies so süß finden? Genau: Weil da endlich jemand ist, auf den man mit dem Finger zeigen kann, wenn man von seinen eigenen Kacka-Windeln ablenken will. Endlich jemand, der kleiner, schwächer und dümmer ist. Endlich jemand, der zwar offiziell gleich, in Wirklichkeit aber höchst ungleich ist. Deshalb lautet die schlimmste Beschimpfung unter Knirpsen ja auch: „Du Baby!“ Tiefer kann man seine Verachtung mit fünf Jahren nicht ausdrücken.

Sind also alle Kinder gleich? Nein: Manche lernen erst zu sprechen, wenn andere schon wieder wissen, dass es klüger ist, die Klappe zu halten. Haben alle Kinder die gleichen Chancen? Auch nicht: Da müssen Jonas und Tina nur auf dem Weg zum Kindergarten die Kids ansehen, die ohne Antrieb und Aufsicht auf der Straße herumhängen. Haben alle Kinder die gleichen Rechte? Ja, keine Frage. Aber hilft ihnen jemand dabei, sie wahrzunehmen? Gleichheit fällt schließlich nicht vom Himmel.

„Guck mal, Papa, hat Jonas macht!“ Strahlend vor Stolz kommt Tina in die Küche und zeigt mir ihr Duplo-Haus. Seit Tagen hat sie versucht, es zusammenzusetzen. Jetzt hat Jonas ihr geholfen und auch noch eine Garage dazugebaut. Und damit den Plan um 30 Prozent übererfüllt. Weltniveau. Und wieder ein Stückchen mehr Gleichheit zwischen den Geschwistern. Genau das haben sich George Orwell und Erich Honecker nie vorstellen können: Selbstlose Hilfe vom Großen Bruder.

Nächste und letzte Folge: Woran der Sozialismus gescheitert ist: Brüderlichkeit

Fragen zur Gleichheit? kolumne@taz.de Morgen: Barbara Bollwahn ROTKÄPPCHEN