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Archiv-Artikel

Ich sammle, also bin ich

Agnès Vardas Essayfilm „Die Sammler und die Sammlerin“ erkundet ein menschliches Grundverhalten. In ihrer heiteren Reflektiertheit gibt Vardas poetische Filmprosa zwischen Fiktion und Dokument einem den Glauben ans Kino und seine Freiheiten zurück

Für Agnès Varda hat diese Haltung etwas Archetypisches: Der Mensch bückt sich, um Essbares vom Boden aufzusammeln. Eine bescheidene, aber keine unterwürfige Haltung. Als der Ackerbau noch Handarbeit war, gehörte das Lesen der Ähren – „la glanage“ – zur Ernte, damals ausschließlich eine Arbeit der Frauen. Heute kehrt diese Praxis wieder: Diejenigen, die kein Geld für den Supermarkteinkauf haben, durchforsten abgeerntete Kartoffelfelder nach dem Ausschuss, der nicht den Handelsbestimmungen entspricht – etwa, weil die Knollen Herzform haben.

Agnès Varda freut sich wie ein Kind über die vielen Herzkartoffeln, die sie auf dem Acker findet. Sie lässt den Blick ihrer kleinen Digitalkamera zärtlich über deren straffe, erdgesprenkelte Oberfläche gleiten. Varda ist natürlich selbst die Sammlerin aus dem Filmtitel: eine Sammlerin von Bildern. Bekannt ist sie als Vorreiterin der Nouvelle Vague, die patriarchalische Filmgeschichte hat ihr außerdem einen Platz als Gattin von Jacques Demy eingeräumt. Informationen, die man angesichts von Die Sammler und die Sammlerin (2000) getrost vergessen kann.

Vardas Essayfilm ist eine Expedition in die Wirklichkeit eines Begriffs. Von Feld zu Feld, von Markt zu Markt, von Mülltonne zu Mülltonne ist sie durch Frankreich gezogen, um „durchzudeklinieren“ (Varda), was „glaner“ (frz. „sammeln“) bedeutet. Das Motiv der Sammler ist meistens Armut, oft aber auch reines Vergnügen oder Empörung über die Wegwerfgesellschaft. Obwohl der Film somit zutiefst soziale Betrachtungen anstellt, verfällt er nie in den übellaunigen Tonfall der Anklage. Vardas charmante, intelligente Kommentare erstatten dem Sammeln vielmehr seine Würde zurück. Und sie lässt die Leute reden, den Obdachlosen so wie den Nobelkoch, der im Gebüsch liebevoll seine Kräuter zupft. Anschließend bedankt sie sich bei ihnen.

Zu Hause legt Varda die Herzkartoffeln ins Regal und dokumentiert ihren Verfallsprozess. Ein anderes Mal filmt sie, die soeben 75 Jahre alt wurde, ihre eigene, faltige Hand. Meditationen über den Tod wechseln sich ab mit Abstechern in Museen. Auf der Autobahn greift Varda vor dem Objektiv nach vorbeifahrenden Lastwagen. Sie will mit ihnen spielen, sagt sie. Der Reichtum ihrer Fundsachen lässt sich kaum aufzählen.

Er ist zugleich der emotionale Reichtum einer Autorin, die mit der eigenen Stimme spricht und deren subjektive Poesie sich gerade so für die Welt durchlässig macht. Der Essayfilm, diesseits des Plot-Terrors der Fiktionalität, jenseits der besserwisserischen Pädagogik des Dokumentarfilms, verkörpert die Freiheit des Kinos. Wenn es dort wahre Schönheit gibt, dann fühlt sie sich an wie Die Sammler und die Sammlerin. JAKOB HESLER

heute (Einführung: Thomas Tode) sowie 25.6., jeweils 21.15 Uhr, Metropolis