Die verdrängte Erhebung

Neben dem Mauerbau markiert der Aufstand vom 17. Juni 1953 das eigentliche Gründungsdatum der DDR. Die SED schaffte es, dass er noch bei den 1989ern als vom Westen gelenkter Putschversuch galt

von DANIEL KOERFER

Der Aufstand in der DDR vor fünfzig Jahren war die erste spontane Massenerhebung gegen ein totalitäres Regime in der Geschichte: Ungarn, Polen, Tschechen, aber auch chinesische Studenten sollten folgen. Fortan wusste die Staatsmacht in Ostdeutschland, dass sie gegen das Volk regierte. Der Alptraum hatte für die SED jetzt ein Datum. „Ist das der neue 17. Juni?“, fragte der Minister für Staatssicherheit im August 1989 nicht von ungefähr seine Generäle, als abermals eine anschwellende Protest- und Fluchtbewegung die Grundlagen der SED-Herrschaft bedrohlich zu unterspülen begann. Aber diesmal war vieles anders. Nicht die Betriebe wie 1953, sondern die Kirchen bildeten jetzt die Zentren der friedlichen Resistenz. Von Streiks war nicht mehr die Rede. Und vor allem: Die sowjetischen Panzer rollten nicht, die Breschnjew-Doktrin, die der Hegemonialmacht ein Interventionsrecht in jedem ihrer Satellitenstaaten zusprach, galt nicht länger – Gorbatschow sei Dank.

Dennoch bleibt merkwürdig, dass die Bürgerbewegung von 1989 nicht anknüpfen mochte an jene eruptive Rebellion ihrer Väter im Sommer 1953. Denn es war eine große Aufstandsbewegung gewesen. Am Anfang stand ein Streikaufruf. Am Ende waren über 600 Betriebe in den Ausstand getreten, protestierten fast anderthalb Millionen Menschen an 560 Orten – viel mehr als die SED später zugeben oder glauben machen wollte.

Das Leninsche Revolutionsmodell gelangte zur Ausführung: Wirtschaftliche Forderungen münden in soziale, in politische, werden durch Generalstreik unterfüttert, Teile der Staatsmacht, hier der Kasernierten Volkspolizei (KVP) solidarisieren sich, die Machteliten werden abgesetzt, ausgewechselt. So geschah es – bis hin zur letzten Stufe, falls den Rebellen dafür genug Zeit blieb, etwa in Halle, Görlitz, Bitterfeld, wo nicht nur Gefängnisse gestürmt, sondern auch Bürgermeister verjagt worden sind. Der marxistisch geschulte SED-Generalsekretär Walter Ulbricht sagte auf diese Nachrichten hin am Mittag des 17. Juni 1953 nur ein Wort: „Aus“.

Ulbricht und die Spitze des Politbüros befanden sich bis auf Innenminister Willi Stoph zu ihrem Schutze längst im Gewahrsam des sowjetischen Hochkommissars Semjonow in Berlin-Karlshorst. Die Sowjets hielten in jeder Hinsicht die Hand über ihre Statthalter. Die größte Militäroperation auf deutschem Boden seit 1945 hatte begonnen. 500.000 Soldaten der Roten Armee, 600 T-34-Tanks waren schon am Morgen des 17. Juni in Marsch gesetzt, hochrangige Militärs und Geheimdienstexperten wie der frühere Chef des SMAD, Sokolowski, aus Moskau eingeflogen worden. Sowjets verhängten den Ausnahmezustand, das Standrecht, verhängten auf der Basis sowjetischer Gesetze (!) 19 Todesurteile, von denen 18 unverzüglich durch deutsche Polizeioffiziere vollstreckt wurden, und ließen das Feuer auf Demonstranten eröffnen. Die Sowjets, ganz unzweifelhaft, retteten den SED-Staat – der davon im Rückblick kaum mehr etwas wissen mochte. Und im Nachhinein die Deutungsmacht über die Ereignisse zu gewinnen suchte.

Weil nicht sein konnte, dass sich Arbeiter und Bauern spontan und unkoordiniert gegen den Arbeiter-und-Bauernstaat erheben, weil tatsächlich ja auch die Rasanz der Ausbreitung verblüffte – zu der Rias und NWDR bei aller Zurückhaltung sicherlich beigetragen hatten – stand für die SED, übrigens auch für die Sowjets sogleich fest: Es konnte sich nur um einen von westlichen Agenten und Provokateuren gelenkten Putschversuch gehandelt haben! Diese These war ebenso falsch wie folgenreich, hat wohl noch das Meinungsbild der Bürgerbewegung 1989 mitgeprägt, in jedem Fall viel Zuspruch unter den DDR-Intellektuellen von Anna Seghers bis Stefan Heym gefunden. Die Stellungnahme des neuen Sekretärs für Staatssicherheit, Wollweber, aus dem November 1953 blieb geheim: „Es ist uns bis jetzt nicht gelungen, nach dem Auftrag des Politbüros die Hintermänner und Organisatoren des Putsches am 17. Juni festzustellen …“

Es gab schlichtweg keine, wie auch die beiden jüngsten Veröffentlichungen zu diesem Thema übereinstimmend unterstreichen, die sich ohnehin in der Bewertung nur in Nuancen unterscheiden. Der Berliner Historiker Thomas Flemming liefert einen knappen, resümierenden Abriss, betont, dass die Aktionen sich gerade nicht gegen die sowjetische Besatzungsmacht, sondern gegen das SED-Regime gerichtet haben. Ulbricht ist bei ihm ein Generalsekretär auf Abruf, von den neuen Kremlherren Berija, Malenkow, Molotow, Chruschtschow bereits abgeschrieben. So spannend seine Schilderung der kommunistischen Kabalen zu lesen ist, die Indizienkette für seine These bleibt dünn.

Hubertus Knabe, der Leiter der Stasi-Gedenkstätte, vertritt an diesem Punkt in seiner wesentlich detailreicheren Darstellung denn auch eine andere Auffassung, glaubt nicht, dass die Sowjets ihren kleinen Diktator tatsächlich auswechseln wollten. Beide Autoren verweisen aber den Bericht von der Füsilierung befehlsverweigernder sowjetischer Soldaten in das Reich der Legende. Beide Autoren schildern ausführlich und zu Recht die lange, qualvolle Krise vor der Krise. Allerdings hat nicht erst mit der berühmten II. Parteikonferenz 1952 die Stalinisierung der DDR begonnen, auch wenn danach die „Verschärfung des Klassenkampfes“ immer brutalere Züge annahm und die SED-Erziehungsdiktatur immer drakonischere Strafen verhängte.

Die neue Welle der Sozialisierungen, der verstärkte Kampf gegen Privateigentum, der plötzlich forcierte Aufbau der Schwerindustrie, aber auch von LPG und PGH (Produktionsgenossenschaften des Handels), der Kirchenkampf und Aufbau einer neuen Armee in Gestalt der KVP mit 113.000 Mann ging mit wachsender Terrorisierung der Betroffenen einher, verstärkte die Fluchtbewegung dramatisch und mündete in eine Regimekrise. In Moskau ordnete man daher nach Stalins Tod im März 1953 einen „Neuen Kurs“, eine Lockerung der zu straff gezogenen Zügel an. Die SED-Spitze folgte, gestand zum ersten und letzten Mal vor 1989 politische Fehler ein, verwirrte damit die Funktionäre auf der mittleren und unteren Ebene nachhaltig. Nur die Erhöhung der Arbeitsnormen nahm man nicht zurück.

Auf diesem Boden reichte der Funke von Block 40 aus der Berliner Stalinallee für die Explosion. Die Folgen der Ereignisse muten paradox an. Die Deutschen im Osten, die rebelliert hatten, wanderten zu tausenden ins Gefängnis. Die im Westen bekamen dank der Intervention Herbert Wehners einen neuen gesetzlichen Feiertag. Adenauer, dem der Aufstand nicht passte, weil für ihn die Westbindung Priorität vor der Wiedervereinigung besaß, gewann im September 1953 die Bundestagswahl fulminant – nicht zuletzt dank der Erhebung im Juni.

Selbst die SED-Herrschaft war anschließend stabiler als zuvor. Maßnahmen zur Anhebung des Lebensstandards in der DDR wurden ergriffen, zugleich der Ausbau der Staatssicherheit forciert. Ulbricht selbst zog in einer taktischen Meisterleistung den Kopf aus der Schlinge, indem er seine innerparteilichen Rivalen Zaisser und Herrnstadt in die Nähe des in Moskau gerade entmachteten Geheimdienstchefs Berija zu rücken verstand, erfolgreich der „spalterischen Fraktionsbildung“ und des „Kapitulantentums“ bezichtigte. So herrschte er noch fast zwanzig Jahre mit Moskaus Billigung.

Zusammen mit dem Mauerbau markiert der 17. Juni 1953 so etwas wie das eigentliche Gründungsdatum der DDR. Sowjetische Offerten für eine Wiedervereinigung waren fortan passé. Die Konsolidierung des fragilen Regimes hatte Priorität. Opfer wie Willy Göttling, Ernst Jennrich, Alfred Dartsch, Herbert Stauch oder die angebliche „KZ-Kommandeuse“ Erna Dorn und viele andere wurden im Osten sogleich energisch tabuisiert, im Westen rasch beschämt vergessen. Kein einziges Denkmal erinnert bislang an diesen doppelt verdrängten Aufstand und nur eine Straße außerhalb Berlins, in Taucha bei Leipzig, an den Tag selbst – 111 Straßen erinnen dagegen an Grotewohl und Pieck.

Thomas Flemming: „Kein Tag der deutschen Einheit. 17. Juni 1953“, 168 Seiten mit zahlr. Abbildungen, be.bra Verlag, Berlin 2003, 19,90 €ĽHubertus Knabe: „17. Juni 1953. Ein deutscher Aufstand“, 488 Seiten mit zahlr. Abbildungen/Karten, Propyläen Verlag, München 2003, 25 €