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Archiv-Artikel

Die Stapelverarbeiterin

Jeder ist ein Messie. Seit dem Erfolg von Ratgebern wie „Simplify your life“ sitzen wir alle auf der Therapeutencouch. Was selbst gewähltes Chaos wirklich bedeutet, demonstriert in diesen Tagen die Künstlerin Andrea Theis. Und räumt vor aller Augen auf

„Wat ’ne Arbeit“, sagt die alte Frau und zeigt auf Theis und ihre Zeitungen„Ich neige zur Üppigkeit. In meinem Körper, in den Dingen, die ich horte“

VON WALTRAUD SCHWAB

Diese Künstlerin kämpft gegen das Ertrinken. Dabei hat sie ihr Schicksal selbst gewählt. Der Sumpf, in dem sie nicht zu schwimmen vermag, ist ihr selbst geschaffenes Chaos: In ihrer Wohnung stapeln sich Blechdosen und Zeitungen, Schneckenhäuschen und Pernod-Krüge. Dazu Schul-Landkarten, Stempel, Verkehrszeichen, Steine, alte Kochbücher. Auch Zuckerwürfel, Notizzettel und alle anderen Artefakte eines aufgeschobenen Alltags. Schneekugeln sammelt sie auch. Solche mit dem Brandenburger Tor darin oder dem Kölner Dom, denn zwischen Berlin, wo sie liebt, und Köln, wo sie arbeitet, spielt sich ihr Leben ab.

Andrea Theis heißt die Frau. Eigentlich ist sie Fotografin, die sich mit Lichtinszenierungen und fotografischen Rauminstallationen einen Namen gemacht hat. Den Freischwimmer hat sie übrigens auch. Aber derzeit verbringt Theis ihre Tage im Glaskasten der Otto-Nagel-Galerie an der Seestraße im Wedding. Um sich herum hat sie Zeitungen gestapelt. Sieben Jahrgänge Zeit, vier Jahrgänge Kölner Stadtanzeiger, ein Jahrgang taz. Von allen Seiten einsehbar, sitzt sie an einem Tisch. Sie liest ein Blatt nach dem anderen. Hin und wieder schneidet sie einen Artikel aus. Danach liest sie weiter, schneidet Texte aus, liest, schneidet aus. Mit einem Kugelschreiber, in dessen hinterem Teil ein BVG-Bus auf und ab fährt, vermerkt sie die Quelle. Klar, Kugelschreiber sammelt sie auch.

Die Freischwimmerin stellt sich in einem Aquarium aus. Wo sie etwas tut, was ihr Leben verändern soll: aufräumen. Ordnung schaffen. Ballast abwerfen. Eine halbe Tonne Altpapier hat sie aus ihrem Kölner Domizil nach Berlin transportiert, um es loszuwerden und um es in ein Archiv zu transformieren. Die einzelnen Artikel, die sie ausschneidet, landen, nach Themen sortiert, in Pappordnern: „Gute Fotos“, „Erinnerungen“, „Ich und die anderen“, „Globalisierung“, „Urlaubs-Tipps“ und „Comics“, „Cuba“, „Köln“ und „Berlin“ – um nur einige zu nennen. Über 40 solcher Ordner sind es bereits. Auch einer für „Todesanzeigen“ ist darunter. Darin landen Verstorbene, deren Schicksal sie anrührt, wie der Sohn des Kölner Bürgermeisters, der überfahren wurde.

Zwei Wochen lang hockt Theis im Glaskasten der Weddinger Galerie. An ihr vorbei hasten Leute, die zu Aldi gehen, in den Getränkemarkt oder ins Fitness-Studio. Für Sekunden schauen sich die Künstlerin und die PassantInnen in die Augen. Aber sie verstehen sich nicht, denn Kunst ist im Wedding ein eigenes Kapitel. Dass man im Bezirk allerdings gut daran tut, beim Aufräumen ein Beispiel zu geben, das kapieren die meisten dann schon. Auf der Bank vor dem Aquarium ruht sich eine alte Frau aus, der die Füße weh tun. „Wat ’ne Arbeit“, kommentiert sie und deutet auf Theis und ihre Zeitungen in der Vitrine.

„Simplify your life“ heißt ein Buch, das es in die Bestsellerlisten der deutschen Feuilletons geschafft hat. Andrea Theis ist ein lebendes Beispiel für die Unglücklichen, denen mit dem Ratgeber geholfen werden soll: In ihrer Wohnung herrscht jenes Chaos, das großen Verzweiflungen und großen Entdeckungen gleichermaßen vorausgeht. „Nicht für mich ist es hier unordentlich, sondern für die anderen“, protestiert die Künstlerin. Ausgestattet mit rheinischem Humor weiß sie, wie man über sich selbst lacht. Unter dem Kriterium „Spaß“ will die bekennende Karnevalistin die Ausstellung auch verstanden wissen, selbst wenn es in Wirklichkeit bierernst zugeht.

An den Galeriewänden hat Theis Fotos ausgestellt, die das Innenleben ihrer Wohnung schonungslos dokumentieren. „Behauster Trödelladen“ trifft am besten, was da zu sehen ist. Anders als im Ramschladen kommen bei ihr zu Hause noch die Zeitungsstapel dazu, die sich überall türmen: unter dem Fenster, neben dem Schrank, im Türrahmen. „Wer mich besucht, greift wie im Reflex aus dem Herumliegenden etwas heraus, studiert es und stellt es wieder zurück“, erzählt sie. „Über die Dinge komme ich mit den Leuten ins Gespräch“, meint Theis. Anders nicht?

Die Künstlerin riskiert viel mit ihrer Ehrlichkeit. Denn dem neuesten Psychotrend zufolge ist Unordnung krankhaft. Das Fazit der Ratgeber lautet: Messies kriegen keinen klaren Gedanken zusammen, Messies sind nicht zielorientiert, Messies sind dick. Übergewichtig ist Theis tatsächlich. „Ich neige zur Üppigkeit. In meinem Körper, in den Dingen, die ich horte, in den Räumen, die ich angemietet habe.“ Die 38-Jährige, die sich ihren Lebensunterhalt als Kamera-Ton-Assistentin beim Fernsehen verdient, hat eine große Wohnung, einen riesigen Keller, ein Atelier. Um Raum geht es, um Wohnkomfort nicht. „Gerade so, als wäre es mir verboten, es mir schön zu machen“, meint die Künstlerin.

„Stapelverarbeitung“ heißt die Live-Performance an der Weddinger Seestraße. Es ist eines von mehreren Events zum Thema „Bank“ in der Otto-Nagel-Galerie. Von Bankenskandal über Bänke bis hin zu Theis’ Anti-Motto: „auf die lange Bank geschoben“ ist alles möglich. Die konzeptionelle Vereinfachung, die die Galerie vorgibt, kommt der Künstlerin entgegen. Denn anders als in ihrem Privatleben, das sich zwischen Chaos und Kapitulation bewegt, überzeugt sie in ihren künstlerischen Arbeiten vor allem mit Strenge und Transparenz.

Theis’ bisherige fotografische Rauminstallationen beschäftigen sich fast immer mit einer Täuschung der Wahrnehmung: In hermetisch abgeschlossenen Räumen inszeniert sie Fenster, die eine Weite mit Horizont vorgeben, die nur Fantasie ist. Bei anderen Arbeiten irritiert sie die Betrachtenden damit, dass ihnen die Unfähigkeit des Auges vorgeführt wird, gleichzeitig das Ferne und das Nahe zu fokussieren. Sie hat das Museale fragmentiert und inszeniert wie in der „Hochbunker“ genannten Arbeit im Detail ein Ganzes. In einem Bunker im Kölner Stadtteil Ehrenfeld, der nach wie vor für den Ernstfall intakt gehalten wird, hat sie lebensgroße fotografische Schattenrisse von Frauen aufgehängt, die sich in gewalttätigen Situationen befinden. Dafür hat Theis die Frauen animiert, sie zu bewerfen, zu beschimpfen, zu attackieren. Mit solchen Arbeiten beweist sie: Chaos und Transparenz gehen zusammen.

Kontrolle und Kontrollverlust – das sind Theis’ Themen, denen sie sich als Künstlerin und als Sammlerin verschrieben hat. Während es ihr bei ihren Arbeiten gelingt, im Unberechenbaren nicht verloren zu gehen, bestätigt sie sich in ihrem Alltag ständig das Gegenteil. Dieses alltägliche Scheitern stellt sie nun aus. Zwar wird sie während dieser Aktion ein paar Stapel Zeitungen los und verliert dabei, ganz kathartisch, vielleicht auch ein paar Pfunde. Dafür fährt sie am Ende jedoch mit einem vier Meter langen Archiv nach Hause, das zwangsläufig nie vollständig sein wird. Theis’ Verwertungsperformance ist, und das macht sie deutlich, die unendliche Geschichte einer Sammlerin.

„Stapelverarbeitung“: Bis 30. April täglich von 13 bis 19 Uhr in der Otto-Nagel-Galerie, Seestraße 49. Sprechstunde für Betroffene täglich von 17 bis 18 Uhr. Zur Finissage am 30. April gibt es ab 19 Uhr eine Zeitungsresteverwertung mit Tanz in den Mai.