Alle Promis sind schon da

Die momentan laufende fünfte Staffel von „Big Brother“ auf RTL 2 soll angeblich unsere Gesellschaft abbilden – mit „Reichen“, „Normalos“ und „Survivors“. Das stimmt selbstverständlich nicht. Aber das Konzept der Sendung ist genialer, als selbst RTL 2 ahnt

VON CHRISTOPH SCHULTHEIS

„Bevor ich was Falsches sage, sage ich nichts.“

(Kandidat Jerry, Tag 6)

„Hier drinne is alles anders als draußen.“

(Kandidatin Jeannine, Tag 55)

„Big Brother“ kennt jeder, oder? Doch, doch. Dass derzeit ein Schröder Kanzler ist, weiß schließlich auch, wer ihn nicht gewählt hat. Und so ist das eben auch mit „Big Brother“: die Überwachungs- und Containershow, RTL 2, Billigfernsehen, Menschenwürde, Sie wissen schon … Spätestens damals, als der Sender die Sendung zum ersten Mal ins Programm nahm, war die Aufregung so groß, dass sie einem kaum entgangen sein konnte. „Zlatkoisierung der Gesellschaft“ usw., wir erinnern uns. Das war 2000.

Fünf Jahre Erregung

Vier Jahre später gibt es die Langzeitshow immer noch. Oder wieder. Seit Anfang März zum fünften Mal. Warum auch nicht? Die anfängliche Aufregung hat sich gelegt. Die Quoten sind (für einen so kleinen Sender) nach Eigenangaben mit durchschnittlich zwei Millionen Zuschauern und gut 14 Prozent Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen ganz passabel und abends um 19 Uhr sogar besser als das, womit RTL 2 sonst so seine Sendezeit füllt.

Zuvor lief auf dem „Big Brother“-Sendeplatz seit anderthalb Jahren die US-Sitcom „King of Queens“. Fünfmal die Woche vier Folgen zeigte der Sender, ungefähr hundert hatte er insgesamt im Angebot. Den Rest kann man sich denken. Immerhin: Die Serie war überaus sympathisch. Und dass RTL 2 in diesem Jahr ungefähr 100 Millionen Euro an Bruttowerbeerlösen erwirtschaftet hat, ist selbst dann interessant, wenn man sich nicht dafür interessiert.

Genau, und nun läuft eben seit März abends um 19 Uhr auf RTL 2 ein ganzes langes Jahr lang immer noch/schon wieder die nunmehr fünfte Staffel „Big Brother“. Allerdings haben sich RTL 2 und die Produktionsfirma Endemol, nachdem abzusehen war, dass das womöglich kaum jemanden interessieren könnte, was einfallen lassen: Die Kandidaten wurden in drei „Teams“ („Reich“, „Normal“, Survivor“), die Containerkulissen wurden in drei verwinkelte, von massiven Gitterstäben getrennte „Bereiche“ („Reicher-Bereich“, „Normalo-Bereich“, „Survivor-Bereich“) umgebaut – und in die Pressemitteilungen zum Start wurde der Begriff „moderner Klassenkampf“ geschrieben. Mitgerissen von der geradezu feuilletonistischen Selbstbehauptung ließen erste Reaktionen nicht lange auf sich warten: „Klassenkampf als Fernsehformat. Das hatten wir noch nicht“, schrieb beispielsweise die Berliner Zeitung, „Spiegel-Online“ fand es „großartig, wie subtil und feinfühlig hier die Programmmacher bereits auf die Agenda 2010, Pisa 1, Hartz 1, 2, 3, 4 und 5 sowie Gerster 1, Ackermann 2 und Esser 5–10 reagiert haben“, die FAZ sprach von „nachbarschaftlichem Sozialdarwinismus“ – selbst in der taz hieß es, „Big Brother“ nähme „die Enge und die Zumutungen des zukünftigen Arbeitsmarktes schon einmal vorweg“.

Aber das war, wie sich bei näherem (also längerem) Hinsehen herausstellte, natürlich Unfug: RTL 2 ist ein kleiner Sender, „Big Brother“ eine RTL 2-Unterhaltungsshow. Heute läuft die 58. Folge. Als vergangenen Montag einer der „Big Brother“-Kandidaten, der vor Jahren mal ein bisschen Boxsport gemacht hatte, zur Boxlegende René Weller auf vier Runden in einen Boxring stieg, nannte RTL 2 die Veranstaltung 1. „ein Box-Ereignis der Spitzenklasse“, 2. „das Box-Event des Jahres“ und 3. „den Boxkampf des Jahrhunderts“. Und das, obwohl das alljährliche „Promiboxen“ bei RTL doch erst am kommenden Samstag stattfindet.

Aber wir greifen vor. Zunächst gilt nur festzuhalten, dass wir in einem ziemlich seltsamen Makrokosmos unserer Gesellschaft lebten, wenn wir uns darin tatsächlich – wie in der TV-Show – morgens, mittags, nachts von einer emotionslosen Stimme belästigen lassen müssten. Wenn wir körperlos dazu aufgefordert würden, jetzt Volleyball zu spielen, Konfetti zu stanzen oder ferngesteuerte, „freundlicherweise von der Firma HPI bereitgestellte“ Spielzeugautos zusammenzubauen, wie das bei „Big Brother“ an der Tagesordnung ist oder auf der Tagesordnung steht. Wenn wir als Strafe für eine Unartigkeit zu einer Stunde Nichtstun, einer Nacht ohne Bettdecke, einem Tag ohne Essen, einer Woche ohne Zigaretten verdonnert würden, wenn wir aus halbwegs unerfindlichen Gründen plötzlich unsere Sachen zusammenpacken, auf Whirlpool, Sauna und Schampus („Reicher-Bereich“) verzichten und stattdessen mit einem Pennplatz unterm Wellblechdach („Survivor-Bereich“) vorlieb nehmen müssten oder umgekehrt. Und spätestens, wenn die Inszenierung des Ganzen gelegentlich in Begriffsverwirrungen wie „die ‚Reichen‘ im ‚Normalo‘-Bereich“ oder „die ‚Survivor‘ im ‚Reichen‘-Bereich“ mündet und das für den Zuschauer eigentlich keinen Unterschied macht, spätestens dann weiß man, dass das alles mit dem Makrokosmos unserer Gesellschaft, wo real existierender Kapitalismus und Sozialdemokratie unaufhaltsam ihren gewohnten Gang gehen, nichts zu tun hat.

Klüger als die Kritiker

Nein. Erst wenn wir nicht mehr über unternehmerische Aufmerksamkeitsstrategien, sondern über das reden, womit wir es bei „Big Brother“ eigentlich zu tun haben (über Fernsehen also), kommt Schwung in die Bude. Über Inhalte, nein, über Inhalte lässt sich auch dann nicht viel sagen: weil sich junge Frauen unter den Kandidaten zum Beispiel nun mal gelegentlich umziehen oder duschen, sieht das – als Video- oder Bildsequenz ins Internet gestellt – hinterher sogar fast verboten aus. Weil irgendwer schon mal Sex mit Dieter Bohlen hatte und das hernach als „Big Brother“-Kandidat ausplaudert, sieht das – als Titelstory in der Bild am Sonntag gedruckt – hinterher sogar fast so aus, als sollte einen das interessieren. Und in den Werbepausen zeigt RTL 2 allerlei Handylogos und Klingeltöne-Spots. Wie Viva.

Aber das Konzept ist genial. Noch ist zwar nicht ersichtlich, ob RTL 2 und Endemol das selbst wissen, aber wenn Jens Jessen vor vier Jahren in der Zeit, wenige Tage nach Anbruch des hiesigen „Big Brother“-Zeitalters, behaupten konnte, RTL 2 sei „klüger als seine Kritiker“, dann ist RTL 2 vielleicht längst klüger als die Konkurrenz.

Zukunft: Platzhalter-TV

Die nämlich muss sich beständig, andauernd was Neues einfallen lassen, Neues entdecken und damit auch noch schneller sein als andere. Oder besser: „Popstars“, „Star Search“, „Star Duell“, „Deutschland sucht den Superstar“, „Die ultimative Chartshow“, „Fear Factor“. Und während die großen Brüder und Schwestern von RTL 2 mit Budgets und Strategien herumhantieren, ist RTL 2 wie der Igel: schon da. Schließlich muss bei „Big Brother“ gar nicht mehr gecastet, nicht verhandelt und kaum nachgedacht werden: Studio und Moderatoren gibt es schon, No-Names und „Promis“ gleichermaßen. Und täglich einen festen, festen Sendeplatz.

Schon jetzt kann diese Langzeitsendung da auf RTL 2 bedenkenlos als Doku-Soap und Daily-Talkshow durchgehen, gelegentlich auch Spiel- oder Quizshow, Teleshopping, Telegymnastik, Stylingmagazin.

Und wenn RTL 2 am vergangenen Montag, ausgerechnet fünf Tage vor dem RTL-„Promi-Boxen“, einen „Big Brother“-Kandidaten zusammen mit René Weller in den Ring steigen ließ, war das vielleicht der Anfang eines neuen, nie gekannten Platzhalterfernsehens.

Und wenn nicht, gibt’s eben junge Frauen beim Duschen.