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Archiv-Artikel

Wo zwei Welten enden

Die Oder lag längst hinterm Dorf. Im Sommer brachte sie Mücken, im Winter fror sie zu. Mehr nicht

AUS AURITH UND URADTINA VEIHELMANN

Aurith ist ein Dorf am Deich. Eine Hand voll Häuser, zwei Gaststätten, ein Weg am Ufer. Dahinter fließt die Oder. An manchen Tagen fühlt man sich hier wie an der See. Weil der Fluss weit ist, wenn er viel Wasser führt und krause Wellen treibt. Und weil man nicht auf die andere Seite gelangt. Ein alter Fähranlegesteg ragt hundert Schritt weit in die Oder. Von hier aus sieht man rote Dächer hinter Weiden, der Wind trägt das Kläffen von Hunden herüber. Übersetzen kann man nicht. Das letzte Fährschiff hat 1945 abgelegt.

Dort wo die roten Dächer leuchten, auf der östlichen Seite der Oder – dort lag früher der andere Teil des Dorfes, wo der Kaufladen war und die Kirche stand. Auriths vergessene Hälfte heißt heute Urad und ist ein polnisches Dorf, mit einem Kiosk und Sandpisten, über die ab und an ein Polski Fiat rast. Wie Aurith liegt es am Rande der Welt – nur von Polen aus gesehen. Vom Ufer ragt auch hier ein Steg weit in den Fluss. Wie zwei Finger zeigen die beiden verlassenen Fährbuhnen aufeinander. Nun ruft Europa die Union dieser getrennten kleinen Welten aus. Die Uhren der Aurither und Urader ticken deshalb nicht schneller. Was hier geschieht, geschieht langsam.

Als Heinz Thurian nach dem Krieg auf die deutsche Seite von Aurith kam, wurden die Ufer der Oder von Reitern bewacht, die schossen auf alles, was sich im Fluss bewegte. Thurian kam als Vertriebener aus Saude bei Gubin. Er kam ’46 als einer der Ersten. Alles, was Thurian besaß, hatte er auf seinem langen Marsch zurücklassen müssen. Er kam mit leeren Händen und zog zunächst in den Keller einer Ruine.

Heinz Thurian ist ein Mann mit weißem Haar und einer winzigen Brille. Über sein Gesicht breiten sich Lachfalten, und wenn er erzählt, klingt es nicht bitter. Er dichtete seinen Unterschlupf gegen Regen ab, säte ein bisschen Korn, wenn er welches bekam, und fing in der Oder Fische. Mit einem Boot auf den Fluss hinaus wagte er sich nicht, der Reiter wegen. Er fischte in den überschwemmten Auen. In das Aurith auf der andren Seite, die polnisch geworden war, kam Thurian nie. Es war zu gefährlich, und es musste auch nicht sein.

Auch in Urad gab es damals verlassene Häuser und zerschossene Mauern, erzählt Zofia Kapica, die heute die Letzte hier ist, die diese Zeit miterlebt hat. Die Geschichte hatte sie und ihren Mann an diesen Ort gespült. Sie dachten beide, es sei nur für kurze Zeit. Warum die Koffer auspacken, wenn es gleich weitergeht. Kapicas kamen aus dem heutigen Weißrussland, mit dem Versprechen, zurückkehren zu dürfen. Sie hatten ein eigenes Haus zurückgelassen und tauschten es gegen ein fremdes, geplündertes an der neuen Westgrenze Polens.

Herr Kapica suchte für die Fenster neue Rahmen, die nur halbwegs passten. Er hobelte sie zurecht, bis es irgendwie ging. Sie lebten in einem Provisorium, das irgendwann zu ihrem Leben wurde. Thurians und Kapicas haben viel miteinander gemein – ohne sich je gesehen zu haben. Sie haben einmal alles verloren und mussten mit nichts beginnen. Anders als Heinz Thurian hat Zofia Kapica das nie recht verwunden. Sie verließ fast nie das Haus. Nicht einmal zum Einkaufen. Und an den Grenzfluss ging sie schon gar nicht.

Erst die Töchter und Söhne der Thurians und Kapicas wurden sesshaft in den Dörfern. Die Tochter von Zofia, Kazimiera Kapica, begann, in Urad zu leben. Sie unternahm alle Wege, die ihre Mutter vermied. Kazimiera ist eine zierliche, ältere Frau mit einer großen Brille aus den 70ern. Früher hat sie sich um die Kultur im Dorf gekümmert, half, für den „Klub“ von Urad Bands zu engagieren und verlieh Bücher aus der kleinen Bibliothek. Damit nicht allein der Wodka Geist nach Urad brachte.

Kazimiera Kapica erschloss sich das Dorf, doch noch längst nicht die andere Seite. Es gab genug damit zu tun, in einem Dorf zu leben, in dem Fremde aus Gegenden von Ostpolen über die Ukraine bis Kasachstan gemeinsam einen Bürgermeister wählen sollen. Wer will sich da mit einer Grenze befassen, hinter der noch Fremderes liegt? Für die Urader lag die Oder hinterm Dorf, längst nicht mehr in seiner Mitte. Im Sommer brachte sie die Mücken, im Winter fror sie zu. Mehr nicht.

Auf der andren Seite wurde das deutsche Aurith zu einem schlesischen Dorf. Fast alle kamen aus Schlesien. Man genügte sich selbst, ging gemeinsam in die LPG, überstand die Wende und später die „Jahrhundertflut“. Nach dem großen Hochwasser wurden die Häuser weiß getüncht und die Dorfstraße gepflastert. Die Alten bestellen noch einen Acker oder haben ein Pferd im Stall. Die Jungen suchen Arbeit, was schwer ist. Wer eine Existenz gründet, ist weit gekommen.

Silke Thurian, Heinz Thurians Schwiegertochter, hat es geschafft. Sie ist eine massive und selbstbewusste Frau, war arbeitslos und kämpfte für einen Kredit bei der Bank. Sie bekam ihn, und ihr Mann baute mit dem Geld das „Bauernstübchen“. Heute braten die Thurians hier Berge von Aurither Schnitzeln, wenn gutes Wetter ist. Das „Bauernstübchen“ hat eine Holztäfelung, von der Decke hängen kleine Hexen aus Stoff, es ist gemütlich. Der Weg auf dem Deich bringt den Thurians Gäste. Es ist ein Idyll mit Weiden, Bibern und Ottern – um das die Thurians kämpfen würden, wenn es drauf ankäme. Der Grenzfluss liegt für sie hinter dem Deich. Es gibt keine Brücke – und das ist auch gut so. Sie fürchten das Knattern von Mopeds und die Preise von Urader Gastwirten.

Die Oder mit ihren Strömungen und Strudeln, mit ihren Hoch- und Tiefwassern trennt die Dorfhälften heute wie eh und je. Der Fluss sieht nicht anders aus als kurz nach dem Krieg. Man kann keine Verbindung erkennen, aber es gibt sie doch. Die ersten, die hier illegal den Grenzfluss passierten, waren die Schmugglerboote, die nach der Wende Zigaretten fuhren und später Ukrainer und Russen. Sie fahren in der Nacht, wenn die BGS-Streife Schichtwechsel hat. Und es sind nicht nur Polen, wie viele meinen, die diesen Grenzverkehr bestreiten, auch Deutsche sind dabei. Die einen rudern die Boote, die andern geben Zeichen. Die Stelle zwischen den Dörfern ist günstig, weil der Fluss sich hier windet.

In Aurith sitzen manchmal im Morgengrauen Ukrainer auf einer Bank, die klitschnasse Kleider tragen. Das macht den Aurithern Angst. In Dörfern wie Urad leben Menschen von diesem Vordringen in die Aurither kleine Welt. Es sind keine Desperados, sondern Familienväter, die sich eine Existenz aufbauen wollen und später ein Haus. Weil es kaum Arbeit gibt in Urad, leben ganze Familien von der Rente ihrer Großeltern. Und die ist meist sehr klein.

Davon wissen die Aurither nicht viel. Selbst Silke Thurian, die sonst vieles weiß, hat davon keine Ahnung. Aber die Nummer des BGS hat auch sie in ihrem Handy gespeichert. Von ihrem kleinen Grenzposten aus, dem Bauernstübchen am Deich, hat sie ein Auge darauf, was am Fluss passiert.

Doch es gibt auch einen anderen kleinen Grenzverkehr. Es sind die Enkel von Zofia Kapica und Heinz Thurian, die ihn beginnen. Jolanta Kapica, die Tochter von Kazimiera Kapica, ist in Urad zur Schule gegangen. Sie hat Pädagogik und Deutsch studiert und später einen Deutschen geheiratet. Jetzt heißt sie Jolanta Reimann. Sie ist Mitte dreißig, blond und zierlich und strahlt mitunter einen sanften Trotz aus. Als einer der ersten Urader ist sie in Aurith gewesen, auch in Silke Thurians Bauernstübchen.

Jolanta Reimann arbeitet in Słubice bei einem deutsch-polnischen Ausbildungsprojekt. Sie kann sich mühelos in zwei Sprachen verständigen und in zwei Welten bewegen. Was nicht immer einfach ist. Dafür sieht sie die kleine Welt von Urad, die sich oft um sich selbst dreht, nun mit anderen Augen. Und manchmal findet sie nahe liegende Lösungen, die die Urader übersehen. Zum Beispiel als das uralte Spritzenauto seinen Dienst versagte. Es waren die Reimanns, die bei der deutschen Feuerwehr fragten, ob die nicht ihr altes Fahrzeug spenden könnten, was sie dann auch taten. Die Urader fuhren tagelang mit der neuen Feuerwehr durchs Dorf, mit heulenden Sirenen.

Jolanta überquert oft die Grenze, doch den Grenzfluss mag sie nicht. Das Wasser treibt bisweilen Leichen an, von „Illegalen“, die vergebens versuchten, flussaufwärts die Oder zu queren. Der Fluss hat gefährliche Strömungen.

Nicht alle fürchten die Strudel der Oder. Isabel Thurian, Silke Thurians Tochter, ist sommers in Aurith viel am Fluss. Wenn es warm ist, kann man vor dem Deich sitzen, essen und baden gehen. Isabel und ihre Freundin Caroline sind die Ersten aus Aurith, die durch die Oder nach Urad geschwommen sind. Sie sind vierzehn und haben keine Angst vor Polen. Sie fürchten weder Wasserleichen noch den BGS, der den kleinen Grenzverkehr großzügig übersieht.

Die beiden kreuzen den Fluss nicht, um Zigaretten zu holen, sondern um Freunde zu besuchen: Bogdan und Daniel, die in Urad wohnen. Sie quatschen und radebrechen und machen sich bald wieder auf den Heimweg. Ein paar Mal haben Caroline und Isabel ihre Eltern überredet, mit ihnen nach Urad zu fahren – auf dem Landweg sind es vierzig Kilometer.

Ein wenig Angst um ihre Tochter hatte sie, erzählt Silke Thurian. Die breite Oder, das unbekannte Dorf, die polnischen Jungen. Inzwischen hat sie sich beruhigt. „Alles ganz normal“, bewertet sie die Lage heute. Bogdan und Daniel kennt sie mittlerweile. Auch sie sind schon über die Oder nach Aurith geschwommen, bei Niedrigwasser durchs Flussbett gewatet und im Winter übers Eis gegangen – vom Ende der einen Welt ans Ende der anderen.