Schneidig wie Leo Trotzki

Die US-Armee und die permanente Revolution: Amerikanische Neokonservative plädieren für revolutionäre Angriffskriege, die Progressiven von einst erweisen sich als Vertreter des Status quo. Ein Lehrgang über den Narzissmus der kleinen Differenz

Ein Schuss Trotzkistenblut fließt in den Adern der NeoconsDie US-Armee als bewaffneter Arm der demokratischen Revolution

von ROBERT MISIK

Soll man das Erreichte sichern? Oder die Gunst des Augenblicks nutzen, auch Risiken eingehen? Den revolutionären Krieg führen? „Nicht auf halbem Weg stehen bleiben“, lautete das Wort der Stunde, als im Sommer 1920 die russische Rote Armee die polnischen Truppen zurückwarf und auf deren Territorium vorrückte. „Revolutionärer Angriffskrieg“ war die strategische Doktrin, die mehr war als pure Militärstrategie. Dieser Angriffskrieg hatte drei Voraussetzungen: 1. die Perspektive eines globalen Ringens zwischen den Kräften des Fortschritts und des Ancien Régime (hier Proletariat, da Bourgeoisie); 2. den Umstand, dass diese globale Konstellation auf polnischem Boden ihre Entsprechung hatte; und 3. eine Rote Armee, die den Verbündeten des weltrevolutionären Lagers in Polen zu Hilfe eilen konnte.

Es wurde kein durchschlagender Erfolg. Vor Warschau erlitt das Revolutionsheer eine schwere Niederlage. Das Proletariat Polens wollte den Revolutionsexport partout nicht annehmen. Der Chef der Roten Armee war damals Leo Trotzki, mit dem diese Episode sowjetkommunistischer Außenpolitik verbunden bleiben sollte, auch wenn er in seiner Autobiografie „Mein Leben“ später deutlich machte, dass er gar nicht der Kopf der Heißsporne war. Doch die Episode passt eben zu gut zu dem, was man die „trotzkistische Mentalität“ nennen könnte: absolute Zukunftszuversicht, ein Extremismus, was den unbedingten Glauben an die Realisierbarkeit auch noch des ehrgeizigsten Zieles angeht; und eine Art totaler Voluntarismus von dem Typus: „Wenn etwas gut ist für den Lauf der Welt, dann muss man es anpacken. Hält die Realität widrige Details parat, dann zum Teufel mit der Realität.“

Es gibt so etwas wie den trotzkistischen Typus. Das Revolutionäre ist eben auch eine Charakter-, ja eine Gemütsfrage. Wer Angst hat vor Unordnung, Chaos, dem Risiko, der wird nicht der permanenten Revolution anhängen, sondern eher dem Status quo; der wird die Gefahr eines hohen Preises angesichts eines ungewissen Gewinns nicht zu niedrig kalkulieren. Der stalinsche Typus ist dagegen der, der festhält, was er in Händen hat; der auch mit dem Teufel paktiert; der nur wagt, wenn es gar nicht anders geht.

Da wundert es nicht zu hören, dass ein guter Schuss Trotzkistenblut in den Adern der Neocons, jener neokonservativen Ideologen fließt, die der US-amerikanischen Außenpolitik der vergangenen Monate den Stempel des demokratischen Imperialismus aufgedrückt haben. Denn die erste, quasi die Vätergeneration der Neocons bestand aus ehemaligen Linken, die meist in den Dreißigerjahren zu Anhängern Trotzkis zählten.

So war Irving Kristol, ein Pate des Neokonservativismus und Vater von William Kristol (heute als Chefredakteur des Weekly Standard gewissermaßen Chefideologe des Neokonservativismus), einstmals ebenso „trotskisant“ wie Norman Podhoretz, ein anderer Urvater der neuen amerikanischen Rechten. Generell kam die erste Generation der Neokonservativen ja nicht aus dem rechten Milieu, sondern aus den linksliberalen Demokratenzirkeln, die der Aufruhr der Sechzigerjahre zu den Konservativen trieb (darum auch Neocons). Aber auch in der heutigen Generation der Neocons gibt es direkte Verbindungen. So war Kanan Makya, heute gemeinsam mit Ahmad Chalabi einflussreichster Impresario der irakischen Exilopposition in den Washingtoner Couloirs, noch vor wenig mehr als zwei Jahrzehnten ein schillernder Aktivist der trotzkistischen IV. Internationale.

Ihre trotzkistische Vergangenheit haben die Wortführer dieser Tendenzwende dabei nicht vergessen. Statt auf die „permanente Revolution“ setzen sie nun aber auf die „permanente Konterrevolution“, wie Martin Kilian in der Weltwoche das nennt. Da ist schon etwas dran – auch wenn die Neocons es immer verstanden haben, konterrevolutionär ohne konservativ in einem irgendwie brauchbaren Sinn des Wortes zu sein. Denn sie waren wirtschaftsliberal in Maßen, aber nicht besonders brutal, sie haben in den USA einem säkularen, nichtchristlichen Rechtssein erst einen Platz erobert; wenn’s gegen Rassisten geht, sieht man sie an vorderster Front. Und sie waren und sind ganz und gar nicht konservativ in der Außenpolitik, im Sinne dieses hergebrachten Kissinger-Styles, der hohen Kunst zynischer Macht- und Realpolitik. Von Trotzkis Stalinismuskritik haben sie sich die radikale Sowjetfeindschaft erhalten. Podhoretz nannte sogar Ronald Reagan einen „verkrüppelten Falken“, weil er mit Moskau verhandelte.

Eindämmung, dieses Wort, das die Sehnsucht beschreibt, sich mit dem Feind irgendwie ins Benehmen zu setzen, ohne die Auseinandersetzung führen zu müssen, ist tatsächlich völlig untrotzkistisch. Die linken, sozusagen die trotzkistischen Trotzkisten, haben das mit ihrer Abscheu vor der sowjetischen Doktrin der friedlichen Koexistenz zwischen den beiden rivalisierenden Gesellschaftsformationen Kapitalismus und Sozialismus zum Ausdruck gebracht. Aufseiten ihrer rechtsgewendeten Brüder spielte der Hass auf jedes Appeasement eine vergleichbare Rolle. Beide sind auf ihre Weise besessen von der Idee der Weltrevolution.

Natürlich ist der Trotzkismus im Denken der meisten aus der zweiten Generation der Neokonservativen, bei Leuten wie Richard Perle oder Paul Wolfowitz, nur noch als Erinnerungsspur fühlbar; eher als ein Habitus, der Reden und Handeln färbt. Sie sind „extreme Radikale“ (The Economist) nicht insofern, als sie besonders radikale Ziele hätten, sondern eher in dem Sinn, dass sie jedes Ziel für erreichbar halten (vielleicht ist hier die trotzkistische Mentalität mit der amerikanischen eine paradoxe Verbindung eingegangen). Dies ist es, was europäische Denker und Politiker auf Distanz bringt, auch wenn diese die Ziele teilen und die Mittel – die Durchsetzung von Demokratie und Menschenrechten auch mit militärischer Gewalt nämlich – nicht rundweg ablehnen: die bolschewistische Schneidigkeit, der jeder Sinn für das Tragische abgeht.

Wobei durchaus zu fragen ist, ob nicht bei der linken europäischen Kritik an den amerikanischen Neokonservativen womöglich jener spezielle menschliche Charakterzug zum Tragen kommt, den Sigmund Freud den „Narzissmus der kleinen Differenz“ genannt hat. Denn die leise Arroganz des „Kaders“, des „Berufsrevolutionärs“, der sich als „Avantgarde“ sieht – und der sich von Bedenken der Kleingeister nicht stören lässt, wenn es gilt, den Augenblick beim Schopf zu packen –, dieser Habitus der Neokonservativen ist es ja, der viele linke Kritiker in Europa besonders auf die Palme bringt; ein Habitus, der ihnen freilich nicht völlig unvertraut ist.

Zudem wissen die Kritiker natürlich, dass in der Maßlosigkeit der neokonservativen Außenpolitik auch eine gewisse Art von Realismus steckt, der sie positiv von den klassischen „realistischen“ außenpolitischen Strategien abhebt. Sie weiß, dass Wünsche und Aspirationen der Völker ein kräftiges Motiv sind, dass der, der sich ihnen entgegensetzt oder auch nur vergisst, sie in Rechnung zu stellen, auf Dauer einen hohen Preis zu zahlen hat, und dass, wer sich allein auf Geschäfte unter Machteliten verlässt, schnell verlassen sein kann. Und sie weiß auch, dass Gesellschaften – und ganze Kulturen –, wenn sie einmal in Bewegung kommen, das Tor zu ungeahnten Möglichkeiten aufstoßen können, zu einer nachhaltigen, „permanenten“ Transformation eben. Das ist die erhabene Seite des trotzkistischen Erbes: ein Gefühl für gesellschaftliche Dynamik und eine gewisse Abscheu gegen jede falsche Stabilität. Doch die weniger betörende ist das systematische Absehen von allen unintendierten und unkalkulierten Neben- und Nachfolgen einer gesellschaftlichen Dynamik, die bisweilen auch dann, wenn sie mit besten Absichten in Gang gesetzt wurde, recht zwiespältige Resultate zeitigen kann.

Diese „kleine Differenz“ jedenfalls erweist sich mit schier naturwüchsiger Regelmäßigkeit immer dann, wenn Linke sich dem Konzept der militanten Verbreitung der Demokratie annähern. Paul Berman, einer der führenden linksliberalen Intellektuellen der USA, hat mit „Terror and Liberalism“ gerade ein eloquentes Plädoyer für einen linken Bellizismus vorgelegt (siehe taz vom 17. 5.), das sich von dem, was Leute wie Joschka Fischer in der Bosnien- und Kosovo-Causa vertraten, nur wenig abhebt – ist damit aber, wie Ian Buruma im New York Review of Books schreibt, „von den radikalen Neokonservativen nur mehr schwer unterscheidbar“.

„In der Außenpolitik sind die Konservativen nun für den radikalen Wandel und die Progressiven für den Erhalt des Status quo“, feixt jetzt Kenneth Adelman, einer der Inspiratoren dieser neokonservativen Revolution. Im Irakkrieg haben die neuen Umstürzler die Urszene des trotzkistischen revolutionären Angriffskrieges nachgespielt. Sie hatten, wie Trotzkis Armee vor 82 Jahren: 1. eine ideologische Grundkonstellation – Demokratie versus Tyrannei; 2. den symbolischen Verbündeten im Land selbst – das irakische Volk, von dem ausgemacht schien, dass es seine Befreiung ersehnte; und 3. die neue „Revolutionsarmee“, die nur zur Hälfte eine Militärmacht im Dienste einer Nation, zur anderen schon ein Prinzip in Waffen war: die US-Army, gewissermaßen der bewaffnete Arm der demokratischen Revolution.

Im Unterschied zu Leo Trotzki haben seine neokonservativen Wiedergänger in Bagdad nicht ihr Warschau erlebt. Andererseits hat die linke Variante dieses historischen Offensivgeistes der neokonservativen Spielart eine Erfahrung voraus: dass Revolutionen, auf Bajonetten exportiert, selten halten, was sich die Revolutionäre versprechen.