: Verbieten soll verboten werden
Beim 2. Weltkongress arbeitender Kinder in Berlin wehren sich die minderjährigen Delegierten gegen die Verurteilung ihres Broterwerbs
AUS BERLIN ANNETTE JENSEN
„Meine Eltern haben gesagt: Wir haben kein Geld, um dich zur Schule zu schicken. Dass ich trotzdem hingehen konnte, verdanke ich meiner eigenen Arbeit. Das Geld selbst zu verdienen war meine einzige Chance“, erzählt Tambaké Tounkara aus Guinea, der in einer Schlosserei Fenster- und Türscharniere montiert. Während seine übrigen Geschwister Analphabeten sind, wird der 16-Jährige demnächst studieren.
Zusammen mit 31 anderen Kindern und Jugendlichen aus Asien, Afrika und Lateinamerika diskutiert Tambaké seit dem 18. April auf dem 2. Weltkongress arbeitender Kinder in Berlin, wie sie ihre Lebens- und Arbeitssituation verbessern können. Delegiert wurden sie von lokalen oder nationalen Organisationen, die sich zur weltweiten Bewegung arbeitender Kinder zusammengeschlossen haben. Am Sonntag endet das Treffen.
Arbeiten und lernen schließen einander nicht aus – das ist die zentrale Botschaften der Kinderbewegung, die sie an die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) senden will. Für die von staatlichen, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern beherrschte UNO-Institution steht die Abschaffung von Kinderarbeit nach wie vor ganz oben auf der Agenda. „Seit es die ILO gibt, bekämpft sie Kinderarbeit, seit vielen Jahren proklamiert sie sogar ein Verbot“, kommentiert Sophie Faye aus dem Senegal diese Politik. „Aber tatsächlich hat sich Kinderarbeit immer weiter ausgebreitet.“
Auch karitative Programme mit dem Ziel, Kinder ungefragt von ihren Jobs wegzuholen und in die Schule zu schicken, lehnt die Bewegung ab. „Wir wollen selbst entscheiden. Wir lateinamerikanischen Kinder können zusammen arbeiten, spielen und lernen. Wir wollen nicht, dass uns andere vorschreiben, dass wir nur spielen und zur Schule gehen dürfen“, sagt Joel Aquino aus Paraguay.
Dabei bringen die Delegationen unterschiedliche Erfahrungen mit. Die VertreterInnen aus Lateinamerika sind die jüngsten – und die radikalsten. Der 14-jährige Bäckergehilfe Lisandro Cáceres aus Peru geriert sich als Chefideologe und fährt volle Breitseite gegen die ILO: „Ich bin sauer auf die ILO, weil es eigentlich deren Aufgabe ist, die Rechte der arbeitenden Menschen zu vertreten.“ Als Kooperationspartner sei sie völlig ungeeignet. So habe die ILO auf ihrer Internetseite die lateinamerikanische Kinderbewegung vor einiger Zeit sogar als gefährlich und terroristisch eingestuft, berichtet Lisandro.
Schwierigkeiten haben lateinamerikanische Kinderarbeiter vor allem mit der Polizei. Manche schlagen die Kinder und konfiszieren ihre Waren, die sie auf dem Markt verkaufen wollen, erzählt die 13-jährige Peruanerin Jacy Ore. Weil es Kindern unter 14 verboten ist, zu arbeiten, verdienen manche nun lieber nachts ihr Geld. „Das ist natürlich viel gefährlicher“, weiß sie.
Ganz anders sieht es in Afrika aus. „Alle Regierungen haben unsere Bewegung anerkannt“, freut sich Tambaké Tounkara. Auch bezüglich der ILO geben sich die afrikanischen VertreterInnen wesentlich diplomatischer. „Wir wollen mit der ILO in einen Dialog treten und fordern sie auf, die Realitäten bei uns anzuerkennen“, sagt Antonio Infanda aus Guinea-Bissau. Ein Hauptgrund, zu arbeiten, bestehe schließlich in der Notwendigkeit, Geld zu verdienen; die Armut vieler Familien lasse den Kindern gar keine andere Wahl. Hinzu komme, dass eine nicht zu schwere Arbeit ein Teil von Bildung sei und aufs Erwachsenenleben vorbereite.
„In einigen Punkten stimmen wir mit der ILO völlig überein“, ergänzt Sophie Faye. Bei der Bekämpfung des Kinderhandels etwa kooperiere man. Auch hinsichtlich der Abschaffung der von der ILO als „schlimmste Formen der Kinderarbeit“ bezeichneten Verbrechen wie Prostitution und Zwangsarbeit sei man sich einig.
Nicht einverstanden ist die afrikanische Bewegung hingegen mit den Plänen der ILO und der 1998 entstandenen internationalen Protestbewegung „Global March“ – beide wollen Kinderarbeit grundsätzlich verbieten. „Wir sind weder für noch gegen Kinderarbeit. Aber wir können doch nicht gegen unsere eigene Existenz arbeiten“, bringt Tambaké Tounkara seine Sichtweise auf den Punkt. Deshalb setze sich die afrikanische Kinderbewegung für würdige Bedingungen ein: überschaubare Arbeitszeiten, kein Lohnabzug bei kurzer Krankheit und die Möglichkeit, neben der Arbeit auch noch zur Schule zu gehen.
Während die afrikanischen Delegierten sich untereinander fast alle auf Französisch und die LateinamerikanerInnen auf Spanisch verständigen können, ist die Kommunikation zwischen den AsiatInnen sehr mühsam. Sogar die sechsköpfige indische Gruppe kommt nicht ohne Übersetzer aus; schließlich gibt es allein in ihrem Land siebzig offizielle Sprachen. So sind im Plenum oft zwei Übersetzungsstufen nötig, bis alle wissen, was ein Mädchen aus der Mongolei oder ein Junge aus Nepal zu sagen hat. Allerdings funktioniert das erstaunlich reibungslos – wohl auch, weil die Kinder am Anfang Regeln festgelegt und überall im Versammlungsraum aufgehängt haben: sich klar auszudrücken und Zeit für die Übersetzung zu lassen. Außerdem sollen die anwesenden Erwachsenen das Gesprochene nicht kommentieren.
Während die mongolische Kinderbewegung sich erst vor wenigen Monaten formiert hat, blickt die gerade 18-jährige Manjula Muninarasimba aus dem indischen Bangalore bereits auf ein langes Arbeitsleben und kinderpolitsches Engagement zurück. In Kooperation mit den örtlichen Behörden hat ihre Organisation mehrere Schulen eingerichtet, die sich nach den Arbeitszeiten der Kinder richten.
Die, an die sich die Forderungen der internationalen Kinderbewegung richten, machten sich auf dem Berliner Kongress rar. Die ILO hatte die Einladung schlicht ignoriert, und auch von Gewerkschaftsseite tauchte nur ein Vertreter auf. Norbert Hocke, Vizechef der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften, fand allerdings klare Worte: „Die ILO muss akzeptieren, dass die Bewegung arbeitender Kinder Teil der Arbeiterbewegung ist. Das durchzusetzen ist allerdings schwer, weil in diesem Fall wir – die europäischen Erwachsenen – das zentrale Problem sind.“