Das Dorf im Dreieck

Wieder aufgelegt: Gert Jonkes „Geometrischer Heimatroman“

Der 1946 geborene Österreicher Gert Jonke lehrte 1969 die literarische Welt das Staunen mit seinem Debüt „Geometrischer Heimatroman“ – Peter Handke war damals nur der prominenteste Begeisterte. Dass Jonke aber heute immer noch eher wenigen Eingeweihten bekannt ist, liegt zum einen daran, dass er nur zögerlich publiziert – zum anderen an der Tatsache, dass das „Marktgängige“ von seinem Schreiben entfernter nicht sein könnte.

Und der Markt rückte immer weiter von ihm weg. 1969 stand das konventionelle Erzählen allgemein unter Verdacht – heute bedarf es schon einiger Mutwilligkeit, experimentell Anmutendes zu veröffentlichen. Umso dankens- und ehrenwerter von Jonkes Verlag Jung und Jung, den seit anderthalb Jahrzenten vergriffenen „Geometrischen Heimatroman“ nun wieder aufgelegt zu haben.

Ein Heimatroman, ein geometrischer. Der Verzicht auf Handlung und Figuren ist vollständig; es geschieht nichts, außer dass zwei über den Dorfplatz gehen wollen – und es am Ende auch tun. Trotzdem wird der Charakter eines Dorfes deutlich, dörfliche Wohlanständigkeit, dörfelndes Duckmäusertum.

In auch im Druckbild erkennbar unterschiedlichen Textformen – Jonke arbeitet mit Spiegelstrichen, Einrückungen, Kursiv- und Kleinschreibungen, er zitiert Warnschilder und integriert Zeichnungen –, kommen das Dörfliche und das Nichtdörfliche, eben das Fremde, in den Blick. Dialektpassagen, Sprachstanzenreihungen, Paragrafen von normalerweise ungeschrieben Regeln, früh vom Dorflehrer eingebläut, markieren das Leben. Es ist ein ritualisiertes und bürokratisiertes Leben.

Und doch: Alles schwankt. Weder wer das „Erzähler“-Ich ist, ob eine oder mehrere wechselnde Personen, ist klar, noch, ob das Du eine erzählte Figur ist oder doch in Nouveau-Roman-Manier der Leser, der so hineingezogen würde in den Dorfkosmos und den dann möglicherweise etwas Heimliches, Dorfsittenwidriges mit dem Ich verbinden würde: Lange können „sie“ nicht über den Dorfplatz gehen, „weil wir nicht gesehen werden durften“.

Manche Bräuche muten steinzeitlich an, manche wieder sehr freiheitlich, wie das Schlafen auf Dächern und Dorfplatz. Die Warnungen, Regeln und Verbote sind ins Absurde verrückt – in der Übertreibung erst gelangt die Bürokratie der Willkür zur vollen Deutlichkeit. Gleichzeitig ist sie Quelle von wildem Witz. Ein „Brückenlichtbildausweis“ wird vorm Passieren der Brücke verlangt; „Sind Sie Womöglich Geschlechtskrank“, wird aus Angst vor den „schwarzen Männern“ im Wald auf einem seitenlangen Fragebogen gefragt, und bei Zuwiderhandlung gegen alles Mögliche ist „Die Höhe des Datums in Landeswährung“ zu zahlen.

Die Absurdität schwingt sich manchmal noch weiter hinauf zum Märchenhaft-Fantastischen: Das sind dann die Momente, da das Dorf sich auftut und sich poetische Ausfluchten aus seiner Enge bieten. Der Seiltänzer, ein „Künstler oder wie man so jemanden nennen soll“, über dem Dorfplatz verschwindet „im durchsichtig weißen Himmel“; an den Häusern werden die Fensterflügel „entfaltet, bereit zum Abflug des Hauses in den Traum“.

Das ist nicht die gewohnte Welt und ist es doch. Verblüffend, wie viel Jonkes Formfreiheit zeigt und eröffnet, bei aller formalen Selbstbeschränkung. Immer besteht er auf der Differenz zwischen Schein und Sein. Geometrie, durchgehend präsent in der Beschreibung von Dorf und Umgebung, Geometrie ist Abbildung, ist Abstraktion –Kunst ist immer Abbildung, sie verweist auf die Welt und ist doch von einer Gestaltetheit, die der Welt abgehen muss. Insofern ist dieser Roman geometrisch. Und unentbehrlich. MAJA RETTIG

Gert Jonke: „Geometrischer Heimatroman“. Jung und Jung, Salzburg und Wien 2004, 146 Seiten, 19,50 Euro