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Archiv-Artikel

Die EU, eine Versöhnungsmaschine

INTERVIEW DANIELA WEINGÄRTNER

taz: Ich beginne mit meiner Lieblingsfrage: Wenn Sie einen Tag den Platz eines EU-Politikers einnehmen könnten, wer sollte es sein und warum?

Odile Bour: Ich möchte Premierminister Pierre-Mendès France sein. 1954 ist in der französischen Nationalversammlung die europäische Verteidigungsunion gescheitert. Ich an seiner Stelle hätte dafür gesorgt, dass die Entscheidung anders ausfällt. Dann wären wir ein bisschen weiter heute mit der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik.

Agnieszka Iwanczuk: Ich wäre gern einen Tag Wettbewerbskommissarin. Nicht so sehr, um hinter die Kulissen zu schauen, sondern um selber einmal die Entscheidungen zu treffen.

Ingrida Pucinskaite: Ich wäre gern Jean Monnet oder Robert Schuman gewesen, Personen, die so geniale Visionen hatten, dass sie bis heute Bestand haben.

Mustafa Kemal Öztürk: Wäre ich lieber Prodi oder Wettbewerbskommissar Monti? Nein, ich glaube, ich möchte einen Tag auf dem Platz von Günter Verheugen sitzen. Dann hätte ich der Türkei schon längst das beste Zeugnis ausgestellt. (alle lachen)

Pucinskaite: Aktuelle Politik würde ich lieber nicht machen, um nicht die Illusion zu verlieren, dass es tatsächlich so etwas wie einen Gestaltungsspielraum für Politiker gibt.

Daran schließt sich meine nächste Frage an die beiden Frauen aus den neuen Mitgliedsländern an. Sie haben eine exzellente Ausbildung. Warum reizt Sie die Arbeit in Brüssel mehr als eine Karriere zu Hause in der freien Wirtschaft?

Iwanczuk: Ich wollte schon immer international arbeiten. Zunächst war Völkerrecht mein Spezialgebiet, aber ich habe keine Aussichten für eine Karriere gesehen und deshalb zum Europarecht gewechselt.

Pucinskaite: Ich habe während des Ökonomiestudiums bei einer deutschen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft in Vilnius gearbeitet. Mir war klar, dass Leute wie ich gerade jetzt in Brüssel gebraucht werden.

Mustafa, Sie machen gerade ein Praktikum bei der Europaabgeordneten Heide Rühle. Europäische Idee und Alltag im Europaparlament, klafft das sehr weit auseinander?

Öztürk: Wenn man in den Ausschüssen sitzt, in denen die Gesetze gemacht werden, merkt man, dass es ein ganz anderes System als im Bundestag ist. Hier arbeitet nicht jeder Abgeordnete so spezialisiert vor sich hin, die Fraktion diskutiert politische Richtungsfragen.

Ihr Spezialgebiet ist Migrationspolitik. Glauben Sie, dass durch die EU-Erweiterung die Abschottung schlimmer wird?

Öztürk: Natürlich. Polen hat die längste Außengrenze Europas. Darunter leiden die Gastarbeiter aus der Ukraine zum Beispiel enorm.

Iwanczuk: Ich verstehe die Migrationspolitik der EU so, dass die Lasten gleichmäßig verteilt werden. Dass man sich zum Beispiel gemeinsam für den Schutz der polnischen Außengrenze zuständig fühlt. Oder dass ein Asylbewerber, der in Großbritannien schon abgelehnt wurde, dann nicht die anderen Staaten noch abcheckt.

Pucinskaite: Mich bringt das auf einen ganz anderen Aspekt. Deutschland hat als erstes Land gesagt, dass es Übergangsfristen für Arbeit Suchende aus den neuen Ländern einführen will. Wenn in zwei, drei oder sogar erst sieben Jahren die deutschen Grenzen für litauische Arbeitskräfte geöffnet werden, haben sich die Besten doch längst woanders angesiedelt.

Vielleicht haben Sie gehört, dass der erste deutsche Green-Card-Besitzer aus Indien …

Pucinskaite: … Deutschland schon wieder verlassen hat. Kein Wunder.

Wie ist in Paris die Meinung zum Thema Übergangsfristen?

Bour: Die Leute sind schlecht informiert, und so haben sie Angst vor der Erweiterung. Der kommunistische Ostblock ist für Franzosen weit weg …

Iwanczuk: Kommunistischer Ostblock?

Bour: Das ist eben, was die Leute so denken. Aus Untersuchungen weiß man aber, dass die Ängste unbegründet sind. Die gut ausgebildeten jungen Leute aus dem Osten, die bei uns arbeiten wollen, sind längst da. Und wir brauchen sie auch.

Pucinskaite: Aus Sicht der Beschäftigten in den alten EU-Ländern sind die Ängste nicht unbegründet. Ein Beispiel: Ein deutsches Werk wird geschlossen und nach Litauen verlegt, weil dort die Kosten niedriger sind. Kein Wunder, dass die betroffenen Arbeiter nicht gerade begeistert sind über das neue Europa.

Öztürk: Aber in Deutschland wird die Diskussion über Zuwanderung nun wirklich auf Stammtischniveau geführt. Seit dem 11. 9. ist das noch schlimmer geworden, jetzt kommt der Sicherheitsaspekt dazu. Und die Opposition schürt diese Ängste auch noch.

Angst kommt aus Unwissenheit, hat Odile gesagt. Aber ist das schon alles?

Bour: Das Elsass, wo ich geboren wurde, hatte immer eine besonders niedrige Arbeitslosigkeit wegen der deutschen Betriebe, die dort Produktionsstätten hatten. Jetzt wandern die Betriebe nach Tschechien oder Polen ab. Die Arbeitslosigkeit im Elsass hat zugenommen und damit auch die Angst vor der Osterweiterung.

Da drängt sich die Frage auf: Wie weit soll dieser Dominoeffekt der Globalisierung gehen? Als Nächstes kommt die Ukraine, dann China, und so geht das Lohndumping immer weiter. Gibt es keine Alternative?

Iwanczuk: Es gibt Mechanismen, die die Abwanderung von Kapital und die Verlagerung von Betrieben verhindern. Wenn die nationalen Regierungen sich auf europäischer Ebene absprechen würden, könnte man diese Dumpingspirale durchbrechen.

Können Sie das etwas weniger abstrakt sagen?

Iwanczuk: Das möchte ich nicht. Lassen wir es auf dieser Ebene.

Öztürk: Für mich liegt die Antwort in der Handelspolitik. Wenn die EU ihre Märkte wirklich öffnen würde, könnte jeder produzieren, was er am besten kann. Die Idee der EU-Nachbarschaftspolitik beinhaltet ja auch eine Regionalförderung für die Mittelmeerstaaten und die Russische Föderation. Wenn dort die Sozialstandards, ökologische und sicherheitspolitische Maßstäbe und die Bürgerrechte auf EU-Niveau angehoben würden, wäre der Abwanderungsdruck für Unternehmen und der Zuwanderungsdruck für Arbeiter viel geringer.

Bour: Armutsbekämpfung und Verringerung der Kluft zwischen Nord und Süd stehen ja als Ziele in der neuen Verfassung.

Ist das auch unter polnischen Intellektuellen ein Thema?

Iwanczuk: Wir befinden uns in einer schwierigen innenpolitischen Situation. Das steht derzeit in den Diskussionen bei uns zu Hause im Vordergrund.

Was wird nach dem 1. Mai passieren? Werden die Leute sagen: Das war eine große Anstrengung. Jetzt sind wir drin und wollen ein bisschen ausruhen?

Iwanczuk: So ist die Stimmung in Polen nicht, nein.

Pucinskaite: Hätten wir nicht das klare Ziel des EU-Beitritts vor Augen gehabt, wäre Litauen nicht so weit, wie es heute ist. Zwar wurden auf beiden Seiten viele Fehler gemacht. So wurden die Verhandlungskapitel teilweise nur auf dem Papier abgeschlossen. Die Großbetriebe wurden oft bloß rein formal privatisiert, ohne Rücksicht auf die Dynamik des Marktes.

Iwanczuk: Die polnischen Politiker haben es nicht geschafft, den einfachen Leuten die Reformen besser zu erklären.

Bour: Für Frankreich gilt dasselbe. Niemand hat den Leuten die Vorteile der Erweiterung erklärt. Es wurde so dargestellt, als gäbe es keine Alternative.

Welche Rolle haben die Medien dabei gespielt?

Pucinskaite: Die Veränderungen sind ganz enorm. Vor zwanzig Jahren gab es nur wenige große Zeitungen. Sie berichteten nicht über die Situation westlich des Eisernen Vorhangs. Heute gibt es viele Zeitungen, und auch die kleinen, lokalen Medien berichten regelmäßig über die EU. Die Leute werden also informiert, zum Beispiel über den Verfassungsprozess.

Iwanczuk: Es interessiert die Leute aber weniger, was in Brüssel passiert, als das, was Brüssel mit ihnen machen wird. Diese Information fehlt. Das ist zwar auch die Aufgabe der Medien, aber eigentlich müssten die lokalen Politiker den Bauern in Ostpolen erklären, welche praktischen Konsequenzen eine neue EU-Richtlinie für sie hat.

Ist aus der Perspektive der einfachen Leute in Ihren Ländern Brüssel nur eine große Geldumverteilungsmaschine, oder erwarten Sie mehr von der Union?

Iwanczuk: Die Geschichte zeigt doch, was Europa ist. Es hat mit einer Wirtschaftsgemeinschaft angefangen. Inzwischen wurden so viele Ideen realisiert. Ich hoffe, dass auch bei der Erweiterung die Kraft der Ideen stärker ist als der ökonomische Aspekt.

Öztürk: Europa ist mehr als eine Wirtschaftsgemeinschaft. Auch mehr als eine Wertegemeinschaft. Es reden ja immer alle vom American dream. Am 1. Mai verwirklicht sich ein European dream. Wir lassen die Nachkriegsordnung hinter uns und finden zusammen. Wir werden uns noch viel aneinander reiben, aber es wird etwas ganz Neues daraus entstehen.

Pucinskaite: Es darf nicht so sein, dass die Neuen sich in ein bestehendes System einpassen müssen. Alte und neue Länder müssen sich gemeinsam neue Spielregeln erfinden.

Agnieszka, haben die alten EU-Staaten schon irgendetwas gelernt, was sie für die Erweiterung fit machen würde?

Iwanczuk: Wenn ich mit Leuten aus den jetzigen Mitgliedstaaten der EU spreche, sind sie zwar gespannt, bemühen sich aber nicht sonderlich, uns kennen zu lernen.

Pucinskaite: Die alten EU-Staaten wissen relativ wenig über die neuen. Sie pflegen ihre Vorurteile über den Ostblock, über die kommunistischen Staaten, und daran halten sie sich fest. Sie nehmen nur wahr, was diese Vorurteile bestätigt. Es ist für uns schwierig, das aufzubrechen. Wenn mir einer erzählen will, wie es bei uns so läuft – das macht mich kaputt.

Iwanczuk: Ich kann nicht allen erklären, was Polen ist. Sie sollten einfach hinfahren und es sich anschauen. Toll sind die Länderwochen in den europäischen Institutionen. Gerade ist slowakische Woche. Die EU-Mitarbeiter aus den alten Ländern gehen da hin, es gibt Bilder, Filme, Stände der Regionen …

Öztürk: Das sollte nicht nur hier in Brüssel stattfinden. Man müsste es überall in den alten und neuen Mitgliedsländern organisieren.

Was bringt uns alten Europäern eigentlich die Erweiterung?

Bour: Ein gutes Gewissen. Aus unserer Perspektive ist es eine Erweiterung, für die zehn Neuen eine Wiedervereinigung. Das sagt doch schon alles. Außerdem werden die Wellness-Urlaube billiger, da gibt es in Ungarn tolle Angebote … (alle lachen)

Wenn wir das gute Gewissen zur Richtschnur machen, müssten wir doch auch bald die Türkei aufnehmen. Der haben wir es schließlich seit 1963 versprochen.

Pucinskaite: Für mich ist klar, dass Europa Grenzen hat. In Litauen erzählt man sich den Witz, dass, wenn es so weit käme, nicht Russland der EU beitreten würde, sondern die EU Russland. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich es noch erlebe, dass Georgien EU-Mitglied wird.

Öztürk: Die osteuropäischen Länder haben einen so hohen Preis gezahlt nach dem Zweiten Weltkrieg, dass wir jetzt natürlich für sie einstehen müssen. Das ist eine moralische Verpflichtung. Aber die Türkei hat inzwischen Reformen durchgeführt, die einer Revolution gleichkommen. Das sollte man auch honorieren.

Nicht gerade einleuchtend nach dem jüngsten Urteil über die kurdische Politikerin Leyla Zana.

Öztürk: Aber da steckt doch die türkische Regierung in einem riesigen Dilemma. Sie werden dieses Sicherheitsgericht eben nicht los. Das muss man trennen können. Wenn am Ende des Jahres das Urteil über Leyla Zana als Begründung herhalten würde, dass keine Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen, dann wäre das ziemlich schwach von der EU.

Pucinskaite: Wir dürfen nicht vergessen, dass zunächst Bulgarien, Rumänien, Kroatien und der Balkan sich um Aufnahme in die EU bemühen. Müssen die dann warten, bis die Türkei auch so weit ist? Wie soll Europa das alles verdauen? Für Litauen war es damals ein großes Problem, dass die Verhandlungen mit Estland eröffnet wurden, während Litauen angeblich noch nicht so weit war. Die Kriterien waren nicht nachvollziehbar. Das kann sich psychologisch verheerend auswirken auf ein Land.

Bour: Es weiß doch jeder, dass die Türkei bis Ende Oktober niemals die Kopenhagener Kriterien erfüllen kann. Wenn dennoch der Bericht der Kommission im Herbst positiv ausfällt, ist das ausschließlich eine politische Entscheidung.

Iwanczuk: Jede Erweiterung ist letztlich eine politische Entscheidung. Im Fall Türkei wird das besonders deutlich.

Odile, es hat einen langen deutsch-französischen Versöhnungsprozess gegeben …

Bour: … die älteren Leute in Frankreich sind bis heute nicht begeistert. Wenn meine deutschen Freunde zum Beispiel ins Massiv Centrale fahren, dann sagen sie lieber, sie kämen aus der Schweiz. Aber im Großen und Ganzen ist die Union eine erfolgreiche Versöhnungsmaschine.

Und was ist mit der deutsch-polnischen Verständigung?

Iwanczuk: Die läuft ja schon seit Beginn des Erweiterungsprozesses. Ich würde immer noch eine wichtige Rolle für das „Weimarer Dreieck“ Deutschland, Frankreich und Polen sehen. Inzwischen spricht man aber mehr über das Dreieck Deutschland, Frankreich, Großbritannien. Das finde ich schade.

Meine letzte Frage: Wenn wir doch noch eine Verfassung bekommen, wer soll europäischer Außenminister werden?

Alle vier: Joschka Fischer!