Wildes Denken

Dichte und zugleich ästhetisch befriedigende Komplexität, die weit über spätere, elektronische Medienkunst hinausgeht: eine Wiederbegegnung mit Anna Oppermanns wuchernden „Ensembles“

von Hajo Schiff

Aufgrund der Fragilität und ihres komplizierten Aufbaus sind die raumgreifenden, aus Hunderten von Einzelteilen aufgebauten Bild- und Textansammlungen der Hamburger Künstlerin Anna Oppermann nur selten zu sehen. Zwar sind seit 1992 zwei Räume in der Hamburger Kunsthalle den komplexen Ensembles der 1940 geborenen Künstlerin gewidmet, aber die waren bis vor kurzem meist geschlossen.

Anna Oppermanns arrangiert Additionen von Zeichnungen und Zitaten, Fotografien und Objekten, aufgespießten Zeitungsausrissen und Dokumentationen, die das Wachsen dieser Kombinationen als erneuter Teil des Ensembles zeigen. Es sind wuchernde Sinnschichtungen über private, kunstspezifische oder öffentliche Probleme, eine künstlerische Form dessen, was Levi Strauss das „Wilde Denken“ nannte. 1977 waren sie auf der documenta 6 und zehn Jahre später auf der documenta 8 zu sehen, aber auch beispielsweise 1999 im P.S.1 in New York.

Obwohl Oppermann 1993 starb, erlaubt ihre stets auf Veränderung angelegte Methode den Wiederaufbau der Ensembles an neuen Orten. Die Kunsthistorikerin Ute Vorkoeper und der Nachlassverwalter Herbert Hossmann haben dazu, in Anlehnung an Oppermann, das Vorgehen der „interpretierenden Rekonstruktion“ entwickelt. Jetzt wurde erstmals seit langem das früheste, seit 1968 entwickelte „Spiegelensemble“ bei den „art agents“ wieder aufgebaut. Zusammen mit zwei weiteren Ensembles in der Galerie und der Wiederöffnung der Räume in der Kunsthalle ist so eine besondere künstlerische Position wieder zugänglich.

Anna Oppermanns Arbeiten sind in ihrer permanent reflexiven Methode ein Diskurs und stellen ihn zugleich dar. Früher wurden ihre fragilen Kompilationen oft als ein nur privates Universum angesehen, psychologisch gedeutet oder unter Rubriken wie „Spurensicherung“ oder dem paradoxen Begriff einer „individuellen Mythologie“ gefasst.

Heute zeigt sich ihre epochale Position deutlicher im Argumentationsfeld der neueren französischen Philosophie, doch diese Kontexte drängen sich nicht auf. In der Vielzahl der Bezüge zwischen den Bild- und Textelementen, in der je individuellen Zusammenschau zu einer eigenen Bedeutung, ist den Betrachtern weitgehende Rezeptionsfreiheit gegeben.

Verblüffend ist dabei das Verständnis in Analogie zum Hypertext des Internet, dessen allgemeinen Erfolg Anna Oppermann nicht mehr erlebte: Zu den unterschiedlich gestaffelten Wahrnehmungsebenen drängt sich der Vergleich mit den überlagerten „Fenstern“ (Windows) auf, und die freie Zufälligkeit des „Zugriffs“ ähnelt der Erfahrung des „Surfens“.

Zudem ist es weder vor Ort noch auf der neuen CD-ROM möglich, das angebotene Informationsnetz als Ganzes vollständig zu erfassen. Eine der Lesmöglichkeiten der Ensembles ist so eine fast prophetische: die weitgehende Entwicklung eines zukünftigen Mediums mit den Mitteln der bis dato bestehenden Medien.

Dabei hat Anna Oppermann die Möglichkeiten so weit ausgereizt, dass sie für den Computer eine noch heute schwer zu meisternde Herausforderung darstellen: In 13 Jahren wurden bislang erst fünf Ensembles digital erfasst.

„Anna Oppermann – Spiegel-Räume – Ensembles und Reduktionen“: art agents, Klopstockplatz, Mi–Fr 11–18, Sa 11–14 Uhr, bis 30. Juni; „Öl auf Leinwand, MKÜVO und MKÜVO-Fensterecke“: Hamburger Kunsthalle, Di–So 10–18, Do bis 21 Uhr; „Pathosgeste“: Altonaer Rathaus, Nordeingang. Rundgang: 13. und 27. Mai, Treffpunkt art agents, jeweils 18 Uhr