Sag einfach „action“
Ins Bild gesetzte Wirklichkeiten: Das interntaionale Dokumentarfilmfestival im schweizerischen Nyon
„Vom Experimentalfilm zur großen Reportage, vom intimen Essay zur episch breiten Geschichte, von aus Rushes zusammengestückelten Filmen zu gediegenen 35-mm-Projekten, von gebrochenen zu linearen Erzählungen, von der kurzen Einstellung zur Plansequenz, von der Inszenierung zum direct cinema“ – die Spielarten des Dokumentarfilms sind vielfältig, wie Jean Perret in seiner Aufzählung demonstriert. Gleichwohl ist schon der Titel des von Perret geleiteten Festivals, „Visions du réel“, eine politische Frage: Eine Ansicht des Wirklichen, Blicke auf die Realität – gibt es die noch, während die Fernseh- und andere Medienbilder ideologisch daran arbeiten, genau diese Wirklichkeit zu ersetzen? Was haben Kinobilder diesen Wirklichkeitsbildern entgegenzusetzen? Reflektieren sie, dass sie selbst Teil dieser Medienwirklichkeit sind?
Genau an diesem Punkt haben alte Diskussionen um den Dokumentarfilm abgedankt. Selbst ein Veteran wie Volker Koepp winkt auf die Frage nach dem Grad der Inszenierung in seiner jüngsten Produktion, „Dieses Jahr in Czernowitz“, nur noch müde ab und erzählt eine Anekdote: Als er mit einem seiner Protagonisten, Harvey Keitel, durch die Stadt gestreift sei, war dieser über den ständigen Betrieb der Kamera offensichtlich beunruhigt: „Couldn't you just say ‚action‘, please?“ Koepp hat nicht „action“ gesagt, trotzdem bleiben die Bilder, die er mit Keitel drehen konnte, selten mehr als eitle Selbstinszenierung eines Schauspielers. Was aber immer noch nichts über die Qualität des Films und schon gar nichts über seine politische Ambition aussagt. Möglicherweise ist es gerade spannend, dass Keitel ein filmisches Forschungsprojekt – das Menschen, die aus der Bukowina stammen, mit ihrer Geschichte konfrontiert – mit einem zweiten, darstellerischen unterläuft. Wie zum Teufel wirft man sich angesichts dieser Geschichte in die richtige Schauspielerpose? Ist man in schwarzer Jacke und blauem Schal adäquat gekleidet? Legt man an einem Denkmal einen Kranz nieder oder nur einen kleinen Stein aufs Gemäuer?
Dokumentarfilme sind heute mehr denn je in den Medien, und der mediale Gestus einer Produktion prägt jede Einstellung: Was vertragen Fernsehzuschauer? Leichen? Blut? Wunden? Verzichtet man darauf oder bringt man es in Großaufnahme? Jede Entscheidung kann aufklärerisch, widerständig sein, davon erzählt beispielsweise Jehane Noujaims „Control Room“, der hauptsächlich die Journalisten von al-Dschasira bei ihrer Berichterstattung über den Golfkrieg verfolgt. Ihre Entscheidung, Tote und Verwundete brutal ins Bild zu setzen, beruhte auf der Entscheidung der US-Amerikaner, genau das nicht zu tun. Diese „unkontrollierbare“ Berichterstattung des arabischen Senders muss in den Reihen der Medien- und Kriegsstrategen in den USA zu der Entscheidung geführt haben, die Korrespondenten der Gegenseite zu ermorden, so legt es der Film zumindest nahe. Vor laufender Kamera sieht man deshalb einen Fernsehreporter in Bagdad sterben, trotz Schutzhelm, trotz kugelsicherer Weste.
Während in „Control Room“ die ehemalige MTV-Produzentin Noujaim stilsicher eine Gegenöffentlichkeit montiert, geht „Arna's Children“ von Juliano Mer Khamis ganz andere Wege. Er ist unprätentiös, kunstlos geschnitten und gedreht: Palästinensische Kinder in Jenin bei einer Theaterproduktion – ermöglicht durch die Israelin und Trägerin des alternativen Friedenspreises Arna Mer Khamis – werden gefilmt und befragt. Nach Träumen und Lebensbedingungen. Zehn Jahre später kehrt Juliano Mer Khamis nach Jenin zurück, seine Mutter ist gestorben, aber auch die meisten Kinder von damals sind tot: von Israelis erschossen, als Selbstmordattentäter umgekommen, während sie andere ermordeten. Hier ist es nicht die Analyse, sondern die Zeit selbst, die Geduld, die Liebe und das Interesse, die das Mediale des Films unterlaufen. Khamis hat sich damals für die sieben- bis zehnjährigen Kinder interessiert, heute sind es Jugendliche, die sich mit Waffen den israelischen Panzern entgegenstellen oder schlicht Rache für das erlittene Leid suchen.
Wieder eine andere politische Strategie schlägt „Justiça“ ein. Während das europäische Fernsehen das Courtroom-Drama entdeckt hat, geht die brasilianische Regisseurin Maria Ramos in einen Gerichtssaal und bleibt mit ihrer Kamera unendlich weit weg. Ein Richter stellt Fragen, eine Staatsanwältin schaut den Angeklagten und Zeugen abschätzig hinterher, die Kleinkriminellen geben ihre Lügen zu Protokoll, eine Pflichtverteidigerin schweigt. So ist das wohl in den Schnellprozessen in Brasilien, aber Ramos hat im Gerichtssaal nicht genug gesehen, sie folgt ihren ProtagonistInnen aus dem Raum heraus, auf die Autobahn, in den Bus; ins Vorortviertel, in die Slums, ins überfüllte Gefängnis. Was sich hier wie Protokolle einer anderen Art in die Verhandlung montiert, sind transmediale Bilder der kleinbürgerlichen Idylle, Grotesken aus der Hölle, hoffnungsvolle Versuche zu überleben.
Wir haben zugeschaut. Wie immer und wie jeden Abend vor dem Fernseher. Doch schließlich ist auf diesem Festival das Beunruhigende beruhigend: Es gibt die Bilder des Realen, es gibt Strategien, die Bilderwirklichkeit zu unterlaufen, sei sie inszeniert oder authentisch. Man kann dranbleiben. Hinschauen. Und schließlich löst sich der Bildermüll in ein Nichts auf, denn man hat etwas erfahren im Kino.VERONIKA RALL