In Heavy Rotation: Ich sag, bleib ruhig, ’s is bald so weit

Ein gern gepflegtes Missverständnis: dass die Menschen der Musik wegen auf Konzerte gehen. Tun sie natürlich nicht. Auf Konzerte geht man, um dort seine Freunde zu treffen. Oder um seinen Hormonhaushalt in Ordnung zu bringen und sich (später im Leben) seine Erinnerung daran bestätigen zu lassen. Man geht dahin, weil man sonst nichts mit sich anzufangen weiß, und an dem Abend selbst das Fernsehprogramm nicht den rechten Kick verspricht. Irgendwas muss man schließlich tun. Da darf man sich dieses Wochenende einiges vornehmen: Der Bär ist losgelassen. Allerorten brüllt Musik. 48 Stunden Neukölln, am Samstag die Fête de la Musique, und was sonst noch alles zum Sommeranfang auf den Straßen tanzt. Die Stadt auf den Beinen, bereit zum kulturellen Overkill. Bei der Fête sogar alles zum Nulltarif. Für die schnäppchenjagenden Streuner. So ein Rundumangebot muss man doch toll finden? Muss man eigentlich nicht! Wenigstens nicht, wenn man mehr von Musik mag als einen prima Soundtrack zum Dosenbierverzehr. Aber was hat das mit Ton Steine Scherben zu schaffen, deren Cover von „Wenn die Nacht am tiefsten …“ als Eyecatcher nebenan steht? Nun ja: Immerhin hatten die mal ihren Proberaum am Kottbusser Damm, also in Neukölln. Hätten dann wohl bei den 48 Stunden antreten müssen, und bei der Fête de la Musique sowieso, weil sie als Frontkapelle doch immer zur Stelle sein mussten, wenn es für irgendeine gute Sache ging. Umsonst. „Irgendeiner ruft Hallo und fragt nach der Zeit. Ich sag, bleib ruhig, ’s is bald so weit“, sang Rio bei „Samstagnachmittag“ auf besagter Scheibe. Zum Zeitpunkt der Auflösung der Scherben 1985 hatte die Band einen Schuldenberg von einer halben Million Mark angehäuft. Auch so eine Melodie. That’s immer noch capitalism, baby!THOMAS MAUCH