: „Die deutsche Gesellschaft muss Konflikte mit Migranten riskieren“, sagt Wilhelm Heitmeyer
Das Scheitern des Zuwanderungsgesetzes wird die Kluft zwischen deutscher Mehrheit und den Migranten vertiefen
taz: Unternehmer, Gewerkschaften und Kirchen wollten und wollen ein Zuwanderungsgesetz. Warum ist es so schwierig, diesen gesellschaftlichen Konsens politisch umzusetzen?
Wilhelm Heitmeyer: Weil dieser gesellschaftliche Konsens auf politische Instrumentalisierungen getroffen ist. Kernpunkte dieser Instrumentalisierung sind Angst, Abwehr und Macht. Für das sensible Feld der Integration von Migranten ist dies eine unverantwortliche Strategie.
Also ist die Union schuld?
Nein, das allein ist zu simpel. Mit einfachen Schuldzuweisungen kommt man nicht weiter. Ein Fehler von Rot-Grün war es am Anfang gewiss, das Ganze als einen bloß politisch-administrativen Akt zu behandeln anstatt das Thema offensiv in die Gesellschaft hineinzutragen. Rot-Grün ist nicht unschuldig.
Wenn Rot-Grün es nicht schafft, ein Zuwanderungsgesetz zu verwirklichen – wer dann?
Nun, Rot-Grün war nicht homogen. Denken Sie an die strittigen Sicherheitsfragen. In allen Migrationsgesellschaften spielt die Sicherheit eine Rolle. Das zu bestreiten, war und ist naiv.
Sie meinen, dass die Grünen die Sicherheitsfrage zu sehr der Union überlassen haben?
Der Eindruck war: Die Grünen tun die Sicherheitsrisiken ab, so als wäre die multiethnische Gesellschaft ein immerwährendes Straßenfest.
Kritisieren Sie nicht die grünen Illusionen von vorgestern? Die Grünen sind der Union in den Sicherheitsfragen doch weit entgegengekommen.
Ja, jetzt. Aber Sie müssen den ganzen Prozess der Debatte anschauen. Am Beginn der Verhandlungen haben die Grünen die Sicherheitsfragen sehr lax behandelt. Damit haben sie die Tür für die Union erst geöffnet, sodass aus dem Zuwanderungs- ein Sicherheitsgesetz geworden ist. Das ist mein Vorwurf.
Wird das Scheitern des Gesetzes von der Mehrheitsgesellschaft als Signal gelesen, dass Deutschland doch kein Einwanderungsland ist?
Eine solche Abschottung ist nicht mehr möglich, dem widerspricht schon die die EU-Erweiterung. Da lagern ohnehin genügend Angstpotenziale, sodass jede Angstdebatte gefährlich ist.
Das Zuwanderungsgesetz ist an einer untergründigen Angstdebatte gescheitert?
Ja. Es gibt Formen von Sicherheitsdebatten, die immer neue Unsicherheiten und wechselseitige Verdächtigungen schaffen. Wer auf immer mehr Sicherheit pocht, erzeugt ein Sicherheitsparadoxon: Es werden immer neue Sicherheitslücken entdeckt – und damit immer mehr Angst und neue Verdächtige.
Wie versteht man das Scheitern des Gesetzes denn in den Migranten-Communities? Auch auf sich gemünzt?
Die Abwehrhaltungen in weiten Teilen der politischen Klasse können zwar Ängste bedienen und Wählerstimmen binden, aber ich befürchte, dass dies fatale Auswirkungen auf die hier lebenden Migranten haben. Dies ist angesichts der künftigen demographischen Entwicklungen in den nächsten Jahrzehnten fatal. Die Relationen von Mehrheit und Minderheiten werden sich in zahlreichen Städten und Stadtteilen drastisch verschieben. Das Scheitern des Zuwanderungsgesetzes torpediert den ohnehin schwierigen Entwicklungsprozess des Zusammenlebens zwischen Mehrheit und Minderheiten.
Das Scheitern des Gesetzes kann also die Abschottung von Migranten fördern?
Ja. Manche Migrantengruppen haben sich ohnehin schon abgekoppelt von der Hoffnung auf eine wachsende Kultur der Anerkennung. Ich fürchte, dass das Scheitern des Gesetzes nun als weiterer „rationaler“ Beleg für eine eher erniedrigende Duldung und ein Klima des Misstrauens verstanden wird. Damit wird die eigene Abwehrargumentationen zementiert.
Was muss die Mehrheitsgesellschaft tun, um dem entgegenzuwirken?
Zweierlei: Die Beteiligungs- und Anerkennungschancen von Migranten müssen besser werden. Die Ausländerbeiräte sind da ein unzulängliches Mittel – das kommunale Wahlrecht wäre ein erster Schritt. Insofern ist Kritik von Migranten wichtig. Sonst droht die Gefahr, dass mancher Stadtteil künftig abgeschrieben wird, weil es dort keine Stimmen zu holen gibt. Punkt zwei: Die Mehrheitsgesellschaft muss kritischer und konfliktbereiter mit Teilen der Migranten umgehen.
Zum Beispiel?
Ich denke, dass die Heiratsmigration – dass türkische Männer zunehmend Frauen aus der Türkei holen – ein Problem ist. Denn damit beginnen die Integrationsprobleme immer wieder von vorne. Das kann man politisch nicht verhindern, aber Kritik daran muss möglich sein. Es darf auch nicht verboten sein, öffentlich mangelnde Deutschkenntnisse und Abschottungstendenzen zu kritisieren.
Sind Sie für eine Pflicht von Migranten, Deutsch zu lernen?
Das ist eine diffizile Frage. Vor allem aber ist dies doch im Interesse von Migranten, schon um Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben. Die Alternative lautet, in der Ökonomie ihrer Community zu arbeiten. Das ist langfristig höchst problematisch. Wenn sich türkische Jugendliche von der Idee einer aufholenden Bildung verabschieden und mehr auf Beziehung in ihren Milieus setzen, machen sie sich hochgradig abhängig. Das ist auf die Dauer eine Falle – ein nachhaltiger Verlust von Möglichkeiten und Mobilität.
INTERVIEW: STEFAN REINECKE