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Archiv-Artikel

Küssen in Marzahn

Wer als Mädchen geboren wird, kann als Erwachsener kein Junge sein. So halb hatte ich das ja gewusst

von FRIEDERIKE WYRWICH

„Bis du heiratest, ist das alles wieder ab!“, sagt Schwester Christa, die Religionslehrerin. Ich gehe zurück in den Waschraum und reibe mir unter dem Wasserhahn den hart gewordenen Gips von den Fingern. Wenn ich heirate, muss ich ein Brautkleid anziehen, denke ich und kriege das Grausen. Stelle mir vor, wie ich mit Schleier und weißer Schleppe aussehen würde. Alle Mädchen aus meiner Klasse 2b kann ich mir so vorstellen. Karen, Diana, Jeannette. Nur mich nicht.

Ich trage nie Kleider. Höchstens zur Einschulung und zur Erstkommunion, weil das wohl so üblich ist. Heute stelle ich mir manchmal vor, wie es gewesen wäre, wenn ich im Anzug zur Erstkommunion gegangen wäre. So richtig mit Fliege wie die drei Jungs, die wir hatten in St. Gertrud, Prenzlauer Berg, Berlin, 1981. Ich glaube, das hätte ziemlich toll ausgesehen.

Aber ich bin in einem weißen Kleid aus einem Westpaket gegangen, die Beine in Feinstrumpfhosen, um die der Frühlingswind kalt blies, und einem Kranz aus weißen Blüten auf dem Kopf. Ich kam mir seltsam nackt vor, als ich unsere Straße runter Richtung Kirche lief, mit dem kurzen Rock und dem affigen Blütenkranz.

Sonst bin ich um Kleider herumgekommen – auch zu Kindergeburtstagen und Verwandtenbesuchen. Aber ich habe mir Sorgen gemacht, wie das mal werden würde. Ich kannte keine Frau, die in Hosen geheiratet hatte.

Wenn ich heute ins Kino am Friedrichshain gehe, erzähle ich Freundinnen, die es noch nicht wissen. „Das war mein Kinderkino.“ Denen, die aus dem Westen sind, erkläre ich, dass die sonntägliche Kindervorstellung „nur 20 Pfennig!“ gekostet hat und dass ich hier den Film vom „kleinen Trompeter“ gesehen habe – der hat die Kommunisten immer mit seiner Trompete gewarnt und wird am Ende erschossen. Das klingt so schön schaurig.

In diesem Kino hingen, als ich neun war, Bilder von einem Kinderfilm, der hieß „Max und siebeneinhalb Jungen“. Meine Mutter meinte: „Das wär doch ein Film für dich“ – wegen des halben Jungen. Ein Mädchen inmitten einer siebenköpfigen Jungsbande? Ich wollte nicht. Ich glaubte nicht daran, dass etwas im Kino laufen sollte, dass derartig etwas mit mir zu tun haben konnte. Diese Gedanken, die waren doch jetzt schon geheim. Und außerdem: Das Mädchen sollte nur ein halber Junge sein!

Am Anfang der ersten Klasse wollte ich ein ganzer Junge sein. Dann, als klar war, dass das nicht von heute auf morgen gehen würde, wollte ich ein Junge sein, wenn ich erwachsen bin. Aber mein Vater hat mich aufgeklärt: Wer als Mädchen geboren wird, kann als Erwachsener kein Junge sein. Das war an einem Winterabend auf der Bordsteinkante vor der Schule. So halb hatte ich es ja auch gewusst, aber es hätte doch sein können, wenn man es sich wünscht.

In meiner Schule, der Käthe-Niederkirchner-Oberschule, habe ich meine Liebe zum Sport entdeckt. Natürlich gab es da jede Menge anderer Dinge, die ich gerne tat: Aufsätze schreiben, Rechnen, aber eben auch Sport bei Fräulein Schmirka. Manchmal frage ich mich, was aus ihr geworden ist. Fräulein Schmirka trug immer einen blauen Trainingsanzug mit weißen Reißverschlüssen. Wenn sie in die Turnhalle kam, begann mein Herz plötzlich bis zum Hals zu schlagen und ich konnte ganz schnell rennen.

Ich glaube, Fräulein Schmirka mochte mich auch. Ich durfte, als ich einmal in der dritten Klasse zu früh zur AG Leichtathletik kam, die Erwärmung für eine Horde Erstklässler leiten. Das war eine Ehre – andererseits war es mir auch unglaublich peinlich.

Damals hatte ich einen Traum: Ich wollte Olympiasiegerin im Skispringen werden. Ich glaubte lange daran, dass ich es schaffen könnte. Manchmal habe ich im Wohnzimmer die Anfahrtstellung auf meinen Abfahrtski geübt und mir vorgestellt, wie es wäre, jetzt eine Schanze herunterzuspringen. Zu Weihnachten habe ich mir eine Skibrille gewünscht. Als ich sie dann tatsächlich bekam, gab es nie Gelegenheit, sie zu benutzen. Mädchen sprangen ohnehin kein Ski, jedenfalls damals nicht. Die Brille ist noch heute in meinem Schrank.

Anfang der vierten Klasse sind wir nach Marzahn umgezogen. Zuerst standen dort gerade mal die Häuser und nur die Hauptstraßen waren befestigt, sodass wir Kinder im Winter mit Gummistiefeln zur Schule gingen. Doch nach und nach wurden die Straßen begehbar, wir bekamen Spielplätze und jedem Marzahner S-Bahnhof wurde eine Kaufhalle zugeordnet. Nur die riesige, kilometerlange Brachfläche entlang der Straßenbahnschienen veränderte sich nicht. Zwischen dem Gras und Unkraut, das dort wuchs, führte ein Pfad hindurch – der Kaninchenpfad wie ich ihn nannte, weil ich dort manchmal welche gesehen hatte.

Als ich fünfzehn war, bin ich diesen Pfad oft entlanggegangen, besonders abends, denn einmal in der Woche war Jugendstunde in meiner Kirche „Von der Verklärung des Herrn“. Vor der Stunde war ich immer besonders aufgeregt, denn einerseits lieferte ich mir harte Wortgefechte mit dem Kaplan, der sagte, dass Mädchen nicht ministrieren durften und dass Schlesien eigentlich zu Deutschland gehörte. Andererseits kam Christiane in die Jugendstunde.

Ich weiß nicht mehr wie, aber eines Abends saß ich auf dem Sofa im Jugendkeller, die spießige Schrankwand im Blick und merkte, dass ich Herzklopfen bekam, während ich auf sie wartete. Christiane war schon zwanzig, aber sie kam mir nie so viel älter vor. Auf dem Nachhauseweg, den wir immer gemeinsam entlang der Straßenbahnschienen gingen, erzählte sie mir von ihrem Freund, der bei der Armee war. Sie war die einzige, die kapierte, was ich meinte, wenn ich sagte, dass auch Frauen Priesterinnen werden sollten.

Die Straßenbahnhaltestelle war der Punkt, wo sich unsere Wege trennten. Ich nahm den Kaninchenpfad zum Wohngebiet, Christiane lief weiter die Schienen entlang, zum Abschied umarmten wir uns. Aber eines Abends gab sie mir einen Kuss. Auf den Mund. Als ich den Pfad durch die Dunkelheit lief, fühlte ich mich anders als sonst. Christiane hatte mich geküsst, und ich war schön geworden. Doch die Schönheit dauerte nur kurz. Als Christiane sich in einen Jungen aus der Jugendgruppe verliebte, ging unsere Freundschaft in die Brüche.

Ich trauerte um Christiane, als wäre ich verliebt gewesen. Und das machte mir Angst. Könnte es sein, dass ich eine von denen bin? Von den kerligen Mannweibern in Lederklamotten, die sich in dunklen Ecken herumdrücken? Es war ein kurzer Gedanke, abends in meinem Zimmer. Ich verdrängte ihn sofort wieder. So wollte ich nicht sein. Nie.

Meine Schulzeit in Marzahn war nur kurz. Ab der neunten Klasse ging ich auf die Theresienschule, eine katholische Mädchenschule, die in Ostberlin überlebt hatte. Ich war froh, die Jungs aus der alten Klasse los zu sein. Am Ende hatten sie die Mädchen quer über die Bank gelegt und durchgekitzelt.

In der neuen Schule war vieles angenehmer: Wir waren die FDJ los und konnten relativ frei unsere Meinung sagen, zumindest, was den Staat betraf. Es gab nur vier Klassen. In der Klasse unter mir gab es ein Mädchen, die immer Jeans mit Hosenträgern und Turnschuhe anzog. Eine wie ich, dachte ich, und sprach niemals mit ihr.

Nur wenige hundert Meter von der Theresienschule entfernt stand die Volksbühne, in der ich mit sechzehn zum ersten Mal den Hamlet gesehen habe. Eigentlich wollte ich gar nicht hingehen, meine Mutter musste mich ziemlich überreden: „Hamlet war so was wie ein Intellektueller“, sagte sie. Sie wusste, dass ich damals gerne intellektuell sein wollte. Aber nicht das hat mich schließlich an Hamlet fasziniert, sondern dass er von einer Frau gespielt wurde. Cornelia Schmaus stand da auf der Bühne, in schwarzen Hosen, unverkennbar androgyn, unglaublich schön, und malte sich ein schwarzes Kreuz aufs Gesicht.

In der Schule haben wir in der elften Klasse auch Theater gespielt: das „Gauklermärchen“ von Michael Ende. Ich bekam die Rolle der Spinne, eine Außenseiterfigur, die sich in eine verführerische Frau im grünen Kleid verwandeln konnte. Ich bestand das Probelesen auf Anhieb und wollte meine Sache so gut machen wie Cornelia Schmaus. Den Part der Frau im Kleid übernahm zum Glück Marion aus meiner Klasse, die wusste, wie man sich darin bewegt. Die Spinne zu spielen machte mich glücklich, obwohl sie in dem Stück eine Negativfigur ist. Der Part traf einen Nerv: Wichtig, aber nicht ausgesprochen gut – und ich konnte in Hosen spielen. Mein Gesicht bemalte ich mir nach dem Vorbild von Cornelia Schmaus: schwarzer Grund mit einem weißen Kreuz.

FRIEDERIKE WYRWICH, Jahrgang 1972, lebt in Berlin und hat sich seit ihrer Kindheit in Mädchen auf der ganzen Welt wiedererkannt