piwik no script img

Archiv-Artikel

Aktive Zuschauer und unbeteiligte Passanten

Unterlassene Hilfeleistung ist grundsätzlich strafbar, doch der Straftatbestand richtet sich nach einer sehr ausführlichen Rechtsprechung

Tatort: eine Fußgängerzone in Heide, Tatzeit: der 29. Mai 2003, gegen 21.30 Uhr. Auf offener Straße wird ein 14-jähriges Mädchen vergewaltigt, es fleht um Hilfe, doch Passanten und Anwohner gehen unbeteiligt weiter oder stehen nur herum und sehen zu. Kein Einzelfall, und wieder ist die Empörung groß, und der Wunsch entsteht, (auch) die Passanten und Anwohner in die Verantwortung zu nehmen.

Was in dem US-amerikanischen Film „Angeklagt“ mit Jody Foster so eindrücklich dargelegt wurde, gilt auch für Deutschland: Auch das bloße Zusehen bei einer Straftat ist strafbar, und das Anfeuern eines Täters kann sogar dazu führen, ebenfalls als Täter bestraft zu werden. Im letzteren Fall erfolgt eine Bestrafung für den Anfeuernden wie für den Mörder oder Vergewaltiger selbst.

Ersteres erfüllt den Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). Danach macht sich strafbar, wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten ist.

Was dabei ein Unglücksfall ist, richtet sich letztlich nach einer sehr ausführlichen strafrechtlichen Rechtsprechung. Voraussetzung ist, dass ein plötzliches Ereignis eintritt, das eine erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Sachwerte mit sich bringt. Der drohende Ausrutscher auf einer Bananenschale beispielsweise reicht also nicht aus. Für eine Strafbarkeit ist weiter wichtig, dass der Unglücksfall noch andauert, also – allgemein gesagt – das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist.

Der Begriff „gemeine Gefahr“ bezieht sich auf eine Gefahr für eine Vielzahl von Menschen oder Sachen, z. B. bei einer Überschwemmung oder bei Waldbrand. Die „gemeine Not“ liegt vor, wenn eine die Allgemeinheit treffende Notlage gegeben ist – wenn also z. B. die Wasserversorgung einer Stadt betroffen ist, weil ein Umweltsünder Hausmüll ins Reservoir gekippt hat.

Wie die Hilfe aber nun aussehen muss, richtet sich nach der Erforderlichkeit des Einzelfalles und/oder der Zumutbarkeit für den Einzelnen. Dabei gilt: Je größer die Gefahr, desto mehr mutet die Gesellschaft dem Einzelnen zwar zu. Aber die Hilfeleistung muss dabei ohne erhebliche eigene Gefahr möglich sein. Der Nichtschwimmer muss nicht in einen rauschenden Bach springen und der Nichtmedizinier keinen Luftröhrenschnitt ansetzen. Auch muss das eigene Leben nicht riskiert werden für z. B. ein Buch oder Gemälde, auch wenn es vielleicht sehr wertvoll ist. Und schließlich ist auch noch zu beachten, dass der zu Rettende unter Umständen auf die Hilfe verzichtet hat, etwa ein ohnehin schwerkrankes Unfallopfer, das Nothilfemaßnahmen ablehnt.

Das alles macht die Entscheidung und Beurteilung, wann ein Fall unterlassener Hilfeleistung vorliegt, nicht immer einfach. Und die – verständliche – Wut, wenn wieder ein scheinbar besonders scheußlicher Fall bekannt wird, drängt nach Bestrafungen, die es vielleicht nicht immer gibt. WALTRAUT BRAKER

Die Autorin ist Rechtsanwältin in Hamburg