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Archiv-Artikel

Scheitern als Chance

18 Kulturinstitutionen feiern ein Buch: Bremen und die Region begehen den 100. Ersterscheinungstag von Rilkes Monografie „Worpswede“

„Er ist doch frei wie ein Vogel, und er wird sichnoch hoch emporschwingen“ „Wenige waren begeistert, doch die Masse benahm sich schlecht“

Till Stoppenhagen

Gescheitert. Mit 28 Jahren, hier in Worpswede. Er hat es auch nicht anders gewollt. Zornig, mit hochgezogenen Schultern, wandert er unruhig umher: Rainer Maria Rilke, dargestellt von Oliver Peuker, in der Theaterproduktion „Rilke 1903“.

Bei dem Stück, das am 4. Juli im Garten des Worpsweder Barkenhoffs erstmals öffentlich präsentiert wird, handelt es sich um eine Text-Collage aus Originalzitaten. Sie ist Teil des Kunstprojektes „Rilke. Worpswede.“, an dem sich insgesamt 18 Kulturinstitutionen aus Bremen, Worpswede und Fischerhude beteiligen. Anlass dieses Mammutprojektes ist kein geringerer als ein Buch: der hundertste Jahrestag der Veröffentlichung von Rilkes Künstlermonographie „Worpswede“.

Als Illustration zu Rilkes kunsttheoretischen Betrachtungen zeigt die Bremer Kunsthalle ab dem 29. Juni erstmals alle im Buch erwähnten und abgebildeten Werke. Die Ausstellung „Rilke. Worpswede.“ möchte en Schwerpunkt dabei aber auf das Buch selbst und den Autor setzen und präsentiert die Bilder in einer Bühnenkulisse mit Requisten aus Rilkes Zeit.

Der schmale Band, in dem der Dichter fünf seiner malenden Freunde porträtiert, markiert einen Wendepunkt in Rilkes Schaffen. Hier im Teufelsmoor setzte eine Phase der Neuorientierung und Reifung ein, in deren Folge Rilke zu einem der bedeutendsten deutschen Lyriker seiner Zeit wurde.

Den fiebrigen Blick zu Boden gesenkt, hadert Rilke mit seinem Schicksal. Mit dem ewigen zähen, verbissenen Ringen um die Worte, die wirklich und wahrhaftig sagen, was in ihm brennt und lodert. Mit dem Scheitern seiner Ehe. Mit der Belastung, als mäßig erfolgreicher Dichter eine Kleinfamilie ernähren zu müssen - die „Notdurft, die tägliche Existenz zu sichern“, das raubt ihm regelrecht den Atem.

Eine Frau tritt auf. Eine hochgewachsene Schöne, ganz in erdigem Rot – ein Schelm, wer da nur an Johann Kresniks aktuelles Vogeler-Projekt am Bremer Theater denkt, das eher ungeplant in den Jubiläumsreigen hinein gerutscht ist. Sie ist ein mütterlicher Typ. Lebensfrohe Augen, herzliches Lachen. Sie singt in einem warmen, rauen Alt: „Wenn du schläfst, bin ich dein Traum. Wenn du wachst, bin ich dein Wille.“

Die rätselhafte Frau in Rot, gespielt von Simone Pappler, ist neben Rilke die einzige Figur des Stücks. Sie ist Rilkes Muse, Ersatzmutter, Geliebte.

„Die Frauenfigur trägt zwar Züge realer Frauen, die in Rilkes Leben eine Rolle gespielt haben“, erklärt Regisseurin Ute Falkenstein von der Cosmos Factory Theaterproduktion, „sie ist selbst aber nur eine Fiktion.“

Komplizierte Frauengeschichten gab es im Leben des Dichters einige. Zwei davon lernt er in Worpswede kennen: seine spätere Ehefrau, die Bildhauerin Clara Westhoff, und seine platonische Liebe, die Malerin Paula Becker. Werke der beiden Frauen und ihrer Kollegin Marie Bock zeigt das Paula Modersohn-Becker Museum ab 22. Juni. Unter dem Titel „rücksichtslos geradeaus malend“ – ein, wie könnte es anders sein, Rilke-Zitat – wird im Rahmen dieser Schau erstmals auch die gemeinsame Ausstellung der drei Mackensen-Schülerinnen von 1899 gezeigt.

Die 15 Jahre ältere Lou Andreas-Salomé, an welche die Frau in Rot besonders stark erinnert, war eine zeitlang Rilkes mütterliche Geliebte. Als ihr jedoch klar wird, dass sich ihr junger Freund zu sehr an sie klammert, löst sie die Beziehung auf: „Er ist doch frei wie ein Vogel, und er wird sich noch hoch emporschwingen.“

Der sieht das zunächst etwas pessimistischer. „Du bist ein junger Vogel, aus dem Nest gefallen“, singt ihm die Frau in Rot aus der Seele. Und: „Wer jetzt kein Haus hat, der baut auch keines mehr.“ Zum Glück hat sein Freund, der Maler Heinrich Vogeler, bereits eines: den Barkenhoff. Bei ihm sucht Rilke im Spätsommer 1900 Zuflucht. Und dort, in der Weite des Teufelsmoores, nimmt die von Lou prophezeite Freiheit unmittelbar Gestalt an: „Die Wege und Wasserläufe führen weit in den Horizont hinein. Dort beginnt ein Himmel von unbeschreiblicher Veränderlichkeit und Größe“, schreibt er in „Worpswede“.

Diese enge Verbindung von individuellem künstlerischem Erleben und Natur ist das zentrales Element in Rilkes Kunstverständnis. Er findet sie in den Bildern Fritz Mackensens wieder, dessen „Empfindung [...] sich nur im bewundernden Anschauen der Natur weiterbilden“ konnte. Er entdeckt sie in den Zeichnungen Otto Modersohns, der durch die Hinwendung zur Natur „jene unbewußten Wege“ wiederfand, „aus denen seiner Kunst (wie jeder Dichterkunst) das Tiefste kommen muß“.

Ebenso fragwürdig wie dieses Kunstideal ist Rilkes Begeisterung für das Nordische, die er in „Worpswede“ immer wieder idealisiert. Weit entfernt von jeglicher nationalistischen oder gar rassenideologischen Konnotation, hat es bei Rilke noch nicht seine Unschuld verloren. Vielmehr bildet es in seiner rauen, schlichten Schönheit das Gleichgewicht zur üppigen Farbenfülle des Südens.

Die Auseinandersetzung des Künstlers mit der realen Außenwelt ist für Rilke „das Thema und die Absicht aller Kunst“. Entscheidend ist dabei das Herstellen eines Gleichgewichts - was könnte sich ein so sehr aus der Balance geratener Mann auch sehnlicher wünschen?

Auf dem Barkenhoff hofiert Rilke in seinem Streben nach Gleichgewicht Becker und Westhoff gleichermaßen. Als er im Oktober 1900 von Beckers Verlobung mit Modersohn erfährt, reist er überstürzt ab, kehrt aber nur wenige Monate später zurück. Im April 1901 heiratet er Clara. Noch im selben Jahr wird eine Tochter geboren, doch ein glückliches Familienleben in Westerwede ist Rilke nicht möglich. Finanzielle Probleme kommen hinzu. Im August 1902 trennen sich die beiden in gegenseitigem Einvernehmen.

„Wer jetzt einsam ist, der wird es lange bleiben.“ Obwohl Rilke schnell in den Künstlerkreis um den Barkenhoff integriert ist, bleibt er doch ein Fremder.

Die Konzerte und Lesungen, die er in der Stadt für die „kultivierten Bremer“ veranstaltet, werden trotz hohen Anspruchs Misserfolge. Wenige seien begeistert gewesen, „doch die Masse benahm sich schlecht“, erinnert sich Vogelers Frau Martha.

Sie hatte 1957 mehrere Tonbänder mit ihrem Erinnerungen an die Zeit mit Rilke besprochen. Auszüge daraus unterlegen den Film „Es wurde wundersam Abend“, der im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung im Worpsweder Haus am Schluh gezeigt wird.

Die Einsamkeit, das Missverstandensein: Für Rilke ist das Künstlertum, wie der Literaturwissenschaftler Helmut Naumann schreibt, eine „höhere Form des Menschseins“. „Die Kunst geht von Einsamen zu Einsamen in hohem Bogen über das Volk hinweg.“ notierte Rilke 1898.

Ein elitärer, ein neo-romantischer Kunstbegriff. Er bedeutet eine Abkehr von der symbolischen Ordnung des bürgerlichen Lebens. Weg von dem Versprechen wirtschaftlicher Sicherheit, hin zur Natur: Vor ihr „giebt es kein Urteil; sie hat immer recht.“ Eine Vermittlung zwischen beidem gelingt ihm nicht – Rilke bleibt arm.

Trotzdem quartieren sich sieben junge Schriftsteller beim Schreibprojekt „Worpswede. Rilke. Nachbilder“ ab Juli unter anderem im Barkenhoff ein. Ihr Vorhaben: Sie schreiben über zeitgenössische Kunst und eifern damit einem Vorbild nach, das sein eigenes Leiden an der Welt und sein verzweifeltes Ringen um Gleichgewicht virtuos inszeniert hat. Ein dankbarer Stoff für ein Drama.