„Oooh-uooh, oooh-wou!“

Nach dem Erfolg von „Deutschland sucht den Superstar“ sucht jetzt das ZDF die „Deutsche Stimme 2003“. Ein Besuch beim Casting in Berlin, wo sich aufgeregte Talente die Klinke in die Hand gaben

von CHRISTOPH SCHULTHEIS

In Deutschland gibt es 36 Novotels. Und alle sehen gleich aus. Außerdem gibt es in Deutschland 2.800 Menschen, die sich mitsamt Demotape für die ZDF-Version von „Deutschland sucht den Superstar“ beworben haben.

Dieser Tage tourt das ZDF von Novotel zu Novotel durch Deutschlands Großstädte, um die halbwegs Brauchbaren unter den Bewerbern für die „Deutsche Stimme 2003“ in einem „Castingmarathon“ zu sichten: Jeweils rund 150 Bewerber dürfen einer Vorabjury ein Lied ihrer Wahl vorsingen. A capella. Einfach nur singen. Auf Deutsch. Mindestens 18 Jahre alt müssen sie sein. Sonst ist alles erlaubt. Am vergangenen Wochenende stoppte der Casting-Tross im Novotel Berlin-Siemensstadt, unweit der Autobahn, wo am Vormittag auch Produzent Rainer Laux vorbeischaute und erzählte, wie er am Vorabend in der „Paris Bar“ mit Mick Jagger …

„Tschuldigung, ich fang noch mal an.“

Vorn, im Frühstücksbereich des Novotel Berlin-Siemensstadt, sitzen ziemlich normal aussehende Leute. Sie haben ein Klebeschildchen mit Nummer auf der Brust, manche kommen frisch vom Friseur, andere aus der U-Bahn, viele sehen aus wie Schlagersänger. Man trägt Jeansweste und Jeansrock, Pastell, Bundfalte, Schnurrbart. Gut, dass es hier genügend Aschenbecher gibt – und ausschließlich Saft und Thermoskannenkaffee.

Im Tagungsraum des Novotels sitzen zwischen ein paar Kabeln und Kameras vier namenlose Juroren. Und dort singen die Kandidaten. Nr. 503, Sabine S., singt „Für Dich“ von Yvonne Catterfeld, Nr. 1035, Annika N., singt „Für Dich“ von Yvonne Catterfeld, Nr. 1277 singt „ein Medley aus ‚Heute hier, morgen dort‘, ‚Johnny Walker‘ und ‚Bolle reiste jüngst zu Pfingsten …‘, die Nr. 730 singt „Marmor, Stein und Eisen bricht“, dann singt Nr. 73, dann Nr. 1715, dann 1638, 1643 …

„Danke“, sagt die Jury jedesmal und nickt freundlich. Das war’s. Wer in die nächste Castingrunde kommt, wird Ende Juli benachrichtigt.

„Mist! Kann ich noch mal von vorn?“

Im Bürgerheim des schweizerischen Städtchens Bischofszell singt demnächst, freitags und sonntags, der Männerchor aus dem benachbarten Halden. Mit dabei ist Kurt N. Hier in Berlin ist er Nr. 730. Kurt ist extra aus der Schweiz angereist. Am Abend geht es die 800 Kilometer wieder zurück. Per Bahn. Seine Version von „Marmor, Stein und Eisen bricht“ wirkt ähnlich falb wie sein gemustertes Hemd. Kurt N. ist 32 Jahre alt, allein stehend und trägt einen Oberlippenbart. Er ist im Verkauf von Eisenwaren tätig, sein Chef hatte ihn gefragt, ob er nicht mal mit zum örtlichen Männerchor kommen wolle. Und eigentlich habe man im Bürgerheim ja auch am Samstag singen wollen, aber da war der Saal schon von einer Hochzeitsgesellschaft …

„Danke, Kurt.“

Zuletzt war Mario S. (34) Konstruktionsmechaniker bei einer Lüftungsfirma. Er hat muskulöse Oberarme und die Nummer 73. Das heißt, er war einer der ersten, die sich beworben haben. Mario kommt aus Berlin-Neukölln und war auch schon beim Casting für den „Star Search“, die Superstar-Show von Sat.1. Aber hier beim ZDF gefällt es ihm besser. Er steht auf „deutschen R ’n’ B“ und singt das Lied „Traumfrau“ von Ayman. Ist ’n okayer Typ, der Mario. Von seinen selbst gemachten Songs, in die man sich im Internet unter www.mariomusicsongs.gmxhome.de reinhören kann, weiß die Jury nichts. Dabei sind die …

„Vielen Dank, Mario.“

Aline von der O. ist eine schöne Frau mit einer schönen Nase. Sie sitzt an einem Tischchen weit weg von den anderen und telefoniert leise und lange mit ihrer Mutter in Charlottenburg, die auf ihr vier Monate altes Kind aufpasst. „Wunder gibt es immer wieder“ von Katja Ebstein will sie singen. „Das ist doch von Katja Ebstein, oder?!“ fragt sie. Mit 19 hat sie „mal in so ’ner Rock-’n’-Roll-Band gesungen“, auch jetzt singe sie noch viel, manchmal sogar Jazz, meistens zu Hause. Ja, Aline von der O. ist aufgeregt – zumal ihr das Klebeschildchen mit der Nummer 1643 ständig von der ärmellosen Bluse auf den Teppich fällt. Auf den nackten Oberarm will sie es nicht kleben – und jetzt gern wieder allein gelassen werden, bitte. Was? Nein, große Chancen habe sie wohl nicht – ihr Mann habe gemeint, sie solle mal mitmachen.

Als sie an der Reihe ist, fällt ihr wieder die Kennziffer von der Bluse. Ein ZDF-Mitarbeiter pappt sie ihr kurzerhand auf den Arm. Im Tagungsraum singt sie zunächst ein paar Zeilen Ebstein. Bis ihr der Text nicht mehr einfällt. Vielleicht, meint die Jury, möchte sie es mit einem anderen Lied versuchen. Und Aline steht da und singt: „Oooh-uooh, oooh-wou-wou-wou-wou – Schönär främdär Mann …“ von Connie Francis mit Francis-Akzent. Irgendwie reizend.

„Danke schön, Aline.“

Die Jury, die auch mal die Augen verdreht, wenn wieder ein Kandidat den Raum verlassen hat, nickt sich wohlwollend zu.

Draußen vorm Castingraum ist Aline von der O. wie ausgewechselt. Wieder und wieder stimmt sie das missglückte Ebstein-Lied an, weil sie es doch kann. Nun singt sie sie direkt unter dem Schild „Ab hier bitte nicht laut singen!“ Aber sie singt ja leise. Dann pellt sie sich das Schild mit ihrer Nummer vom Arm. Es fällt schon wieder auf den blöden Novotel-Teppichboden. „Das kann ich doch jetzt wegschmeißen?“, fragt sie. Dann steckt sie’s in die Handtasche. „Als Erinnerung.“