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Archiv-Artikel

Oh Grab, oh Brautgemach

Der Fluch des Ödipus-Geschlechts nimmt ein glückliches Ende: Novoflot spielt „Antigone“ in den Sophiensælen. Vorlage war nicht Sophokles’ Tragödie, sondern Tommaso Traettas Reformoper

VON MARION DICK

Die Tür mit der grünen Aufschrift „Exit“ fällt hinter Antigone ins Schloss. Auf der Leinwand sehen wir, wie sie draußen vor den Sophiensælen in einen roten Sportwagen steigt. Sie ist auf dem Weg, ihren Bruder zu begraben. Sie verlässt den Hof, hängt lässig aus dem Fenster und passiert das Traditionshaus der Deutschen Oper, während Chor und Orchester in den Sophiensælen zum Zwischenspiel ansetzen. Das Publikum grinst freudig. Diese Inszenierung von Sven Holm und seinem Team Novoflot will barockes Musiktheater aus neuer Perspektive zeigen, eigentlich ganz im Sinne von Tommaso Traettas „Antigona“, einer italienischen Reformoper aus dem Jahr 1772. Sie ist eine Verführung zur Gattung Oper, die man weder an diesem Aufführungsort noch in einem so intimen Rahmen zu sehen gewohnt ist. Kein Graben trennt von dem jungen Orchester, das am Rande der Bühne sitzt.

Zunächst ist noch alles wie in der Tragödie von Sophokles. Antigones Brüder Polyneikes und Eteokles, haben sich im Kampf um die Herrschaft in Theben gegenseitig umgebracht. Ihr Onkel, Kreon, versucht nun, sich als neuer Machthaber zu etablieren, verbietet die Bestattung des angeblichen Dissidenten Polyneikes und droht mit der Todesstrafe. Was als autoritäre Geste gemeint ist, bringt Antigone aber erst in Fahrt – im wahrsten Sinne des Wortes.

Mit einer quietschgrünen Schaufel bewaffnet stürmt sie die Bühne. Sie ist Kreon voraus; das sieht man schon am Chor, also dem Volk der Stadt Theben, das auf ihrer Seite platziert ist. Diese Antigone ist aufbrausend und emanzipiert, vor allem aber ist sie sich selbst genug. Die anderen ringen um Aufmerksamkeit, Antigone ist der Star. Das Medium Film hat sie längst für sich entdeckt. Zu Ehren des Begräbnisses wirft sie sich vor der Kamera in Schale; in Großaufnahme filmt sie sich später über dem eigenen Grab, wie eine Filmdiva kurz vor dem Martyrium: „Oh Grab, oh Brautgemach!“ Man könnte vergessen, wer oder wo Kreon ist, bis er über dem Grab auftaucht wie der Stern über Bethlehem, um Antigone wieder freizusprechen.

Diese Antigone (Gesa Hoppe) ist aber auch selbstgerecht und furchtbar intellektuell. Weil ihr Bräutigam Haimon sie retten will, wagt er zu behaupten, er habe Polyneikes begraben. Sein amerikanisch-englisches Gequatsche – „yeah, I fucking did it“ – kontert sie mit deutscher Intellektuellenhaltung: einer germanistischen Interpretation des Antigone-Mythos.

Der Einfallsreichtum lauert in allen Ecken der Inszenierung. Er ist stets charmant und wird nur dort zu viel, wo er das Interpretieren mit dem Illustrieren verwechselt. Rund 100 wie Touristen gekleidete Sänger werden auf die Bühne gelotst wie von der Straße bestellt. Warum? Weil die Stadt Theben ein Friendensfest feiert. Anders das multikulturelle Sprachendurcheinander: Wenn die Darsteller von Ismene, von Haimon und von Kreons Handlanger Adrasto in ihren jeweiligen Muttersprachen auf sich und das Publikum einreden, aber keiner keinen versteht, hat das doppelt Sinn. Nicht nur, weil sich seit jeher Sänger aus aller Welt auf der Opernbühne zusammenfinden, sondern auch als Gesellschaftsbild. Denn im Grunde sind sie alle allein mit ihren Problemen: Ismene will trauern, Haimon ein Held sein, Adrasto Reden schwingen über den Fluch des Ödipus-Geschlechts. Und Antigone will sterben.

Vielleicht wirkt das Happy End deshalb so faul. Im Unterschied zur Tragödie werden Haimon und Antigone in Traettas Opernversion glücklich verheiratet. Die aufmüpfige, kindliche Rebellin, die Haimon noch nicht ein einziges Mal geküsst hat, wird sozusagen salonfähig gemacht. Aber Novoflot und sein beachtliches Ensemble – das sich für wenig Geld und nur diese Produktion zusammengefügt hat – spielt das Ende bewusst lustlos durch: Der Chor zerstreut sich über die Bühne, Ismene fährt weiße Papierschiffchen spazieren, und Antigone – man traut seinem Auge kaum – isst Polyneikes’ Asche aus der Urne wie Chips aus der Plastiktüte. Was bleibt, ist oberflächlicher Schein. Einzig die Musik unter der Leitung Vicente Larrañagas träumt sich selig davon. Und wie aus der Hinterkammer des Gedächnisses erscheint nochmals die grüne Schaufel auf der Leinwand, als würde sie fragen: Welche Antigone wollt ihr wirklich?

„Antigone“, in den Sophiensælen, 7. bis 9. Mai