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Archiv-Artikel

Einige Wahrheiten sind gleicher als andere

Hundert Jahre alt wäre George Orwell heute geworden. Der Moralist führte einen Kampf gegen intellektuellen Konformismus, vor allem den der Linken

von CHRISTIAN SEMLER

Würde George Orwell zu seinem heutigen hundertsten Geburtstag vom Himmelsgebälk herab einen Blick ins Fernsehimperium RTL werfen, so erlebte er eine unerwartete Umkehrung seiner schwarzen Visionen von „1984“. Heute ist „Big Brother“ ein ironisches Zitat für die Arbeit eines Fernsehteams, das ein Millionenpublikum zu Voyeuren am Leben einer wechselnden, freiwillig kasernierten Hausgemeinschaft werden lässt. „Big Brother“ – das sollen wir alle in unserer Eigenschaft als Fernsehkonsumenten sein. Wir sind Überwacher wie potenziell Überwachte. Wer aber nicht mitmachen will, den erwartet nicht die Orwell’sche Folterhölle im „Ministerium der Liebe“. Er schaltet einfach die Glotze aus.

Aber so umstandslos können wir uns Orwells Schatten nicht entziehen. Worauf es ihm in „Animal Farm“ (1943) ebenso ankam wie in „1984“, war das Aufweisen der totalitären Gefahr, der Menschen unterliegen, weil sie sich – erst unter Druck und Terror, dann aber freiwillig – gleichschalten. Sie verlieren das Sensorium für einfach erkennbare Fakten. Sie verlieren das Gedächtnis. Sie verlieren das moralische Unterscheidungsvermögen. Am Schluss von „1984“ empfindet Winston Smith, Opfer der Gehirnwäsche durch den „Großen Bruder“, keinerlei Emotionen mehr für seine ehemalige Geliebte, an deren Seite er sich von den Fesseln der Big-Brother-Ideologie frei gemacht hatte. Umfassende Manipulation durch selbst ernannte Eliten auf der einen, freiwillige Gleichschaltung auf der anderen Seite sind – auch nach dem Niedergang der großen totalitären Systeme – eine ständige Bedrohung geblieben. Eine schiefe Ebene, auf der auch demokratische Systeme abrutschen können.

Orwells Schreckensvision war das Produkt einer dreifachen Erfahrung: der mit der englischen Kolonialherrschaft in Indien, der er als junger Soldat gedient hatte; der mit dem Faschismus, den er zuerst als Freiwilliger in Spanien bekämpft hatte – was er in seinem Buch „Mein Katalonien“ beschreibt – und gegen den er während des Zweiten Weltkriegs als Kommentator der BBC für Indien zu Felde zog; und schließlich der mit der Stalin’schen Sowjetunion. Orwell war nie Mitglied einer kommunistischen Partei gewesen, stets aber ein militanter Sozialist mit einer sehr starken Zuneigung zu den „einfachen Leuten“. Er klagte das Stalin’sche System zu einem Zeitpunkt an, als dieses Vorgehen in konservativen Kreisen Englands überhaupt nicht fashionable war. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wahrte er Distanz zu den frisch gebackenen Kalten Kriegern. Ihm stand vor Augen, dass der Kampf gegen die Supermacht Sowjetunion sich nur zu gut dazu eignete, demokratische und linke Dissidenz im je eigenen Land zu unterdrücken.

Orwell, der Moralist, führte einen oft verzweifelten Kampf gegen den intellektuellen Konformismus, vor allem den der Linken. Ihm war es ekelhaft, wenn Fakten der Unterdrückung beiseite geschoben wurden, weil ihr Bekanntwerden „nur dem Gegner“ nütze oder weil „die Zeit für sie noch nicht reif“ sei. Argumente dieser Art haben die Zeiten überdauert. Sie prägten die Auseinandersetzung im deutschen linken Milieu der Siebzigerjahre, wenn es um die Verteidigung der jeweiligen Sehnsuchtsländer ging, sei es die Sowjetunion, China oder Kuba. Sie setzten sich in den Achtzigern fort, als Solschenizyn mit Schweigen übergangen wurde, und tun auch heute ihre Wirkung. Zu Orwells Schriften sollte immer gegriffen werden, wenn übergeordnete Gesichtspunkte der politischen Strategie geltend gemacht werden, um unliebsame, um schmerzliche Fakten, die das „eigene Lager“ betreffen, zu unterdrücken.

Kein Wunder, dass es nicht an Versuchen fehlt, diese exemplarische moralische Haltung zu diskreditieren. War es wirklich Verrat an der eigenen Sache, als Orwell einer Freundin – Celia Kirwan, die bei einer antikommunistischen Propagandaabteilung des britischen Außenministeriums arbeitete – kurz vor seinem Tod eine Liste von 38 prosowjetischen fellow-travellern und Aktivisten übergab? Celia Kirwan war keine Abgesandte einer staatlichen Unterdrückungsagentur, und Orwells Liste umfasste Personen, mit denen er im Streit lag, auch einige, die versucht hatten, ihn mundtod zu machen. Zur gleichen Zeit war er vehement gegen jedwede Zensur, auch die an Arbeiten seiner politischen Gegner, eingetreten. Aus der Übergabe dieser Liste eine Denunziation abzuleiten, ist nichts als Ausdruck zynischen Bewusstseins. Orwells Schriften sind Grundnahrung gegen diese Seuche. Orwell matters.