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Archiv-Artikel

Streit um türkisches Schulgesetz

Die Regierungspartei AKP will Absolventen religiöser und staatlicher Schulen gleichstellen. Kritiker sorgen sich um den säkularen Charakter der Universitäten

ISTANBUL taz ■ In der Türkei bahnt sich die erste ernste innenpolitische Krise an, seit die islamisch-konservative AKP im November 2002 die Wahlen gewann. Bislang war es Premier Tayyip Erdogan mit Geschick gelungen, alle Fallen, die die türkische Politik für einen Regierungschef aus dem islamischen Lager bereithält, zu umgehen. Die wichtigste Voraussetzung für seinen Erfolg war ein sicherer Instinkt für das Machbare.

Ausgerechnet dieser Instinkt scheint Erdogan verlassen zu haben. Während er von Donnerstag bis Samstag letzter Woche einen historischen Besuch in Griechenland absolvierte, dominierte die Schlagzeilen in Istanbul ein ganz anderes Thema: Die AKP bedrohe die säkulare Ausbildung. Die Schulen sind im Kampf zwischen Religiösen und Laizisten immer ein bevorzugtes Feld der Auseinandersetzung. Äußerer Ausdruck in diesem Kampf sind auch in der Türkei die Kopftücher. Diese sind an Schulen und Universitäten nicht nur den Lehrerinnen und Professorinnen verboten, sondern auch Schüler- und Studentinnen dürfen sich nicht bedecken.

Eine Ausnahme bilden die „Imam Hatip Schulen“, die künftige Imame ausbilden. AbsolventInnen dieser Berufsschule für Prediger konnten bisher an den Universitäten nur Theologie studieren. Trotzdem schicken viele religiösen Eltern ihre Kinder auf „Imam Hatip Schulen“, damit diese eine religiöse Erziehung erhalten, auch wenn sie nicht Prediger werden wollen. Daher werden an diesen Schulen weit mehr Kinder ausgebildet, als man Prediger benötigt. Diese drängen nun darauf, ihre Ausbildung woanders abschließen zu können.

Die AKP hat deshalb für ihre Klientel ein Gesetz vorbereitet und letzte Woche durch den zuständigen Ausschuss geboxt. Dieses sieht vor, dass alle Absolventen von Berufsfachschulen normalen Abiturienten gleichgestellt werden und künftig jedes Fach an der Universität studieren dürfen. Das hätte nach Meinung einer breiten Front von Kritikern zwei Konsequenzen: die hohe Anzahl von „Imam Hatip Schülern und Schülerinnen“ würde sprunghaft ansteigen und die Universitäten „überschwemmen“. Damit wäre neben den normalen staatlichen Schulen, die dringend mehr Geld brauchen, ein zweites religiöses Schulsystem etabliert, dessen Absolventen in wenigen Jahren den säkularen Charakter der Universitäten verändern würden. Zudem bereitet die AKP ein Universitätsgesetz vor, das das Kopftuchverbot kippen würde.

Beide Gesetze werden vom laizistischen Teil der türkischen Gesellschaft bekämpft. Selbst der AKP gewogene Intellektuelle und Kommentatoren fragen sich, warum die Partei ausgerechnet jetzt den großen Kulturkampf vom Zaun bricht. Eine Erklärung ist der steigende Erwartungsdruck eines Teils ihrer Anhänger, die endlich Ergebnisse „ihrer Regierung“ erwarten. Eine andere, dass Erdogan der Erfolg bei den Kommunalwahlen Ende März veranlasst hat, seine Zurückhaltung aufzugeben.

Erstmals seit die AKP die Regierung stellt, haben nicht nur die Opposition und die öffentliche Meinung, sondern auch das Militär gegen ein Gesetzesvorhaben protestiert. Am Montagabend entschied der AKP-Parteivorstand im Beisein von Tayyip Erdogan, das Gesetz noch in dieser Woche dem Parlament zur Abstimmung vorzulegen. Damit ist eine Eskalation des Konflikts programmiert.

Erdogan riskiert nicht nur den Verlust seines Images, einen laizistischen Staat mit einer islamischen Regierung zu versöhnen, er gefährdet auch den wirtschaftlichen Erfolg seiner Regierung. So ist die Börse bereits auf den tiefsten Stand des Jahres abgerutscht, und Euro und Dollar sind auf ihren Jahreshöchststand gegenüber der Lira geklettert. JÜRGEN GOTTSCHLICH