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Archiv-Artikel

Fasten, Trennkost, Völlerei

Nicht nur Hans Eichels katastrophaler Kassensturz legt nahe: Die „fetten Jahre“ sind vorbei. Für uns alle? Für das Heer der Arbeitslosen? Oder für die Wirtschaft, die sich in strahlenden Prognosen sonnt?

VON MICHAEL BARTSCH

Die Mai-Steuerschätzung, die Abschieds-Philippika von Bundespräsident Johannes Rau und der deutsche Filmbeitrag in Cannes passen unter eine gemeinsame Überschrift: „Die fetten Jahre sind vorbei“. Hans Weingartners Film aber passt nicht mehr in Raus Wunschbild eines vitalen, optimistischen Deutschlands. Als Ossi schaltet man ohnehin gewohnheitsmäßig ab, wenn die frohe Zukunft beschworen wird. „Für wen?“, will dann der notorische Skeptiker im Hinterkopf fragen. „Ich war damit noch nie gemeint!“

Sowohl die Zukunftsbeschwörung als auch die Endzeitstimmung suggerieren einen Kollektivismus, den es so nicht gibt. Eine Art Schicksalsgemeinschaft des deutschen Volkes, die sich zum Beispiel in patriotischen Appellen eines Franz Müntefering an Kapitalflüchtlinge äußert. Als ob das Kapital plötzlich an moralische Zügel zu legen wäre! Der Skeptiker weiß, dass die fetten Jahre nicht für alle vorbei sind. Unternehmensgewinne, Bruttoinlandsprodukt und Steuerschätzungen haben nur bedingt etwas miteinander zu tun.

So wundert es nicht, dass eine Mehrheit im Lande das Vertrauen in den Erfolg des jetzt abverlangten Verzichts und in die Steuerungsfähigkeit der Politik verloren hat. Da hätte Rau früher und an anderer Stelle auch bei seinen Genossen klagen müssen. Sein Donnerwetter zum Schluss beweist ganz nebenbei, wie unverzichtbar der Bundespräsident und seine Funktion als Blitzableiter ist, während die Gewitterwolken munter von anderen weitergeschoben werden können.

Die „Frohe Zukunft“ also, in der DDR einst ein beliebter Name für Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, erscheint als ein immer abstrakteres Gebilde. Für sie, so der Kern der Agenda 2010, müsse man jetzt vorübergehend den Gürtel enger schnallen und ein paar Arbeitslose treten. Durch ein Tal der Tränen zu den lichten Höhen, nein, nun nicht mehr des Sozialismus, aber zu irgendeinem ähnlichen Schlaraffenland! Verblüffend, wie vertraut einem das alles vorkommt. Diese Durchhaltezuversicht, diese Art ideeller Volksanleihe aber kann nicht funktionieren. Nicht nur, weil die Reallöhne kaum noch steigen. Zum Beispiel auch, weil es so etwas wie Steuerschätzungen gibt. Der öffentliche Kassensturz wirkt sich unmittelbar auf das aus, was der Bürger an staatlicher Daseinsfürsorge und an Lebensqualität im eigentlichen Sinn erwarten kann.

Hier gibt es vom Gemeindebuchhalter in Hinterkleckersdorf bis hinauf zu Hans Eichel keinen Einzigen, der glaubwürdig Zuversicht verbreiten könnte. Ganz konkret als Ossi und noch konkreter als Dresdner: Die Nummer eins, die Boomtown im Osten, das Silicon Saxony haben ein Desaster der Stadtfinanzen nicht verhindert. Der Dresdner macht überwiegend die Alltagserfahrung von Streichungen bei der eigentlichen „Zukunftsbranche“ Familie. Er erlebt einen Verlust an Urbanität und kulturelle Selbstverstümmelung. Da kann ihm das abstrakte Wachstum auf den Hügeln vor der Stadt ziemlich egal sein. Das ist gefährlich für einen Kapitalismus, der vom Mythos Wachstum lebt. Die Krawattennadelklasse der Republik stöhnte erleichtert auf, als gestern kompensierend zur Steuerschätzung die Wachstumsprognosen verdoppelt wurden: Von 0,2 auf sagenhafte 0,4 Prozent! Es kommen die fetten Jahre! Für die, die nichts davon haben werden, bleibt die Frage, wie man sich arrangiert.

Den Ostdeutschen gab ja Kurt Biedenkopf schon einmal eine Empfehlung, als er merkte, dass das mit den neun Prozent Überholwachstum und dem Arbeitskräftemangel 1995 nicht so klappen würde. Kultur, Tradition, kleine Lebenskreise könnten stattdessen daran erinnern, dass unsere Vorfahren viel weniger zum Glück brauchten.

Vielleicht lässt sich mancher Ossi wegen des niedrigeren Ausgangsniveaus tatsächlich diesen Kunsthonig noch leichter ums Maul schmieren als ein von der „Lerne klagen ohne zu leiden“-Mentalität geprägter Wessi. Hier wie da steht die Gesellschaft aber vor einer Zerreißprobe. Denn Wachstum und Wohlstand – und nicht die vom Bundespräsidenten erneut beschworenen Tugenden – waren bislang die einzigen Klammern, die sie zusammenhielten. Das gehörte zur ernüchternden Erfahrung der ostdeutschen Beitreter.

Ein gigantischer Schokoladenhohlkörper, ein prächtiges Potemkin’sches Dorf ist diese Bundesrepublik. Es könnte nicht nur für das bereits jetzt unterprivilegierte Drittel aber langsam ans Eingemachte gehen. Was kommt dann? Die große Volkskatharsis? Die Kultur- und Werterevolution? Ehrenamt und Kloster für alle? Oder endlich mal ein Nachdenken über die Fetten, die nie in die Jahre kommen?