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Archiv-Artikel

berliner sezenen Zähne ziehen

Abschied nehmen

Am nächsten Tag sollten die Zähne raus. Diese Zähne, die siehst du ja nie wieder; eine symbolische Kastration quasi, nicht schön, aber dennoch okay. Also kriegten die kranken Trottel in den dunklen Innenbezirken des Mundes eine Henkersmahlzeit. Und nach dem Essen glitt man mit seiner Zunge behutsam und Abschied nehmend über die Zähne. Und wusste plötzlich nicht mehr genau, welche Zähne genau denn nun am nächsten Tag herausgerissen werden sollen. Zwei oder drei und alle auf einmal oder eher hintereinander? Drei klang logisch, denn drei Weisheitszähne sind ja noch da.

Was hatte man sich doch auf diese schwachsinnigen Weisheitszähne eingebildet. Und während man Abschied nahm, dachte man noch, wie zynisch es ist, sich jetzt mit diesen todgeweihten Opfern im Mund anzufreunden, die man doch im Alltag kaum gegrüßt hatte? Und morgen dann: tschüss in der Hölle. Trotzdem fühlte man sich wie am letzten Tag eines Urlaubs, schon nicht mehr ganz da, noch nicht woanders und sentimental sowieso.

Da- und dorthin ging dann die Spritze. Immer wieder interessant auch, dass nur die eine Hälfte der Zunge ertaubt. Auf dem Stuhl des Kieferchirurgen starrte man auf Wände und Decke. Ein paar Stellen fielen einem ins Auge. Die müssten eigentlich noch verputzt werden. Im Hintergrund gedämpft „Berliner Rundfunk“ mit Oldie-Musik aus den 60er-Jahren. Man konnte nur noch nuscheln, wegen der Betäubung, die sich langsam ausbreitete. Kompetent schaute der gewiefte Mediziner auf einen herab und sagte tatsächlich: „Sie sollten weniger rauchen“ – als käme er aus einem altmodischen Bilderwitz. Nun zog und knirschte es. Wie wohl die Wurzelresurrektion werden wird? DETLEF KUHLBRODT