: Landeskunde
Nach den militärischen Niederlagen im Ersten Weltkrieg fällt das Osmanische Reich 1918 in die Hände der Siegermächte – und wird aufgeteilt. Das Abkommen von Sèvres am 10. August 1920 zerschlägt den Vielvölkerstaat. Ostthrazien, die ägäischen Inseln und Smyrna mit Hinterland sollen nach der Teilung zu Griechenland gehören, die „Mandate“ Syrien und Libanon zu Frankreich. Rhodos und die übrigen Inseln des Dodekanes waren schon seit 1912 italienisch.
Die Reichsteile Mesopotamien an Euphrat und Tigris sowie Palästina mit Jerusalem werden „Mandatsgebiete“ Großbritanniens. Türkisch-Armenien und Kurdistan erhalten für kurze Zeit Autonomie. Das saudi-arabische Königreich ist eine Monarchie, und in Ostanatolien gründen Armenier eine Republik. Im größten Teil Kleinasiens soll ein türkischer Staat unter vorübergehender Kontrolle der Siegermächte entstehen.
Das Osmanische Reich ist im 15. und 16. Jahrhundert das größte Reich der damaligen Welt. Macht und Stärke des Gebiets versetzen die Europäer in Angst und Schrecken. Sein Verfall wird Jahrhunderte dauern. Wann genau er begann, ist ein Streitfall der Historiker. Als erstes Anzeichen für den Niedergang wird das Jahr 1638 angesetzt, als die Belagerung Wiens missglückt. Der Endpunkt ist 1920, als der letzte osmanische Sultan, Mehmet VI., unter massivem Druck der Alliierten den Vertrag von Sèvres unterschreibt.
Seit Ende des Ersten Weltkrieges gibt es in Istanbul keine regelnde Macht mehr. In Anatolien formieren sich Stadt- und Dorfräte und regieren das Gebiet. Mustafa Kemal, ein siegreicher osmanischer Heerführer, der als Atatürk – der Vater der Türken – in die Geschichte eingehen wird, erkennt den Vertrag von Sèvres nicht an. Er vereint lokale Verteidigungstruppen zu einer türkischen nationalen Widerstandsarmee, die gegen die Vormacht der Alliierten angeht.
Am 23. April 1923 beruft Kemal in Ankara die große Nationalversammlung ein. Der Sultan lehnt den Nationalpakt ab und wird von dem neuen Staatspräsidenten Kemal zuerst sukzessive entmachtet und schließlich im Befreiungskrieg abgesetzt.
Am 24. Juli 1923 wird in Lausanne das Friedensabkommen unterzeichnet. Dieses Dokument ordnet die politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Beziehungen zwischen der Türkei und der westlichen Welt neu. In Ankara, außerhalb der Reichweite der Alliierten, gründet sich eine nationale türkische Regierung. Ziel der Republik ist eine säkuläre Gesellschaft nach westlichem Vorbild. Religiöse Orden und Gemeinschaften werden verboten; der westliche Kalender wird eingeführt.
Zum Verhältnis Angst und Trennung: Die Urerfahrung für das Menschenkind ist die Trennung von der Mutter. Die Psychoanalyse nennt sie eine der wichtigsten Quellen von Angstgefühlen. Psychologisch gedeutet nahm Außenminister Cem Joschka Fischers Bemerkung als drohende Teilung des vatan, des Mutterlandes wahr.
In seiner berühmtesten Rede hatte Atatürk befürchtet, „dass unser Land uns Stück für Stück entrissen und weggenommen wird“. Das ließe „die ganze Nation bitterlich weinen“. Die Angst vor einer Wiederholung der Geschichte drückt sich in der Angst vor einer Unabhängigkeit der Kurden aus. Ya sev, ya terk et ist nicht zufällig ein geläufiger Slogan der Nationalisten: Entweder liebe oder verlasse die Türkei. JUL & MMÖ