Der Freischütz von Peetsch

„Du kriegst doch nie einen Frischling geklaut, da zerlegt dich die Bache“, sagt Günther WasmundGünther interessiere sich prinzipiell für nichts, sagte die Anwältin, und da kam sie der Wahrheit sehr nahe

AUS PEETSCH UND NEUSTRELITZ THOMAS GERLACH

Nach einem Jahr war das Fleisch in der Kühltruhe futsch. Kiloweise bestes Fleisch, das man hätte aufessen können, wenn die Polizei nicht ein Siegel draufgeklebt hätte bei der Razzia, weil sie behauptete, das sei Wildbret – und damit Beweismittel im größten Fall von Wilderei, der sich seit Jahren in Deutschland zugetragen hat. Die Kühltruhe steht in Günther Wasmunds Haus in Peetsch bei Neustrelitz in Mecklenburg. Und hinterm Haus steht ein Räucherofen, hinterm Ofen ein Trecker, hinterm Trecker ein Schweinekoben, ein Karpfenteich, ein Dutzend Schafe und dann kommt der See. Das reicht als Kosmos.

Der Hausherr sitzt in seiner Küche und nippt an der Bierflasche. „Das war Fleisch von den Heidschnucken, die auf der Wiese stehen. Das sieht genauso aus wie Wild!“ Es ist Nachmittag. Alles Verschwendung, alles Unfug – diese Durchsuchung mit Willi Gaida an der Spitze.

Der Neustrelitzer Polizeichef kam eines Morgens im April 2002 um sechs Uhr zu Günther Wasmund, im Gefolge 120 Polizisten, Spürhunde und Experten vom Munitionsbergedienst. Sie klingelten Wasmund und seine Frau aus dem Bett, schauten sich um und luden Fischereinetze, eine Beregnungspumpe „Famos“, Felle, Geweihe, auch allerlei Krempel und dann noch Wasmunds Federbetten auf.

Sie blickten in den Koben und fanden ein Schwein, sie blickten in die Kühltruhe und fanden das Fleisch. Die Truhe wurde versiegelt, das Schwein blieb unversehrt. Am nächsten Tag titelte der Nordkurier „Hirsch im Keller und Wildschwein hinterm Zaun – Polizei fasst mutmaßliche Wilddiebe“.

Die Polizei hat sich danach nicht mehr für die Truhe interessiert und irgendwann war das Fleisch eben hin. Und das Schwein sei eine Kreuzung mit einer Hausrasse und gekauft. „Du kriegst doch nie einen Frischling geklaut, da zerlegt dich die Bache. Was soll der Scheiß? Da war nix!“ Günther guckt wie einer, der satt ist – nicht, dass er keinen Hunger mehr hätte, nein, es schmeckt nicht. Eine Mettwurst, das schon, mit Senfkörnern drin und gut geräuchert – selbst gemacht. „Die haben alle gewildert früher.“ Günther legt eine Wurst auf den Tisch. „Da, probier!“ Das ist was Reelles – dunkelrot, nicht zu fett und nicht zu trocken, haltbar und würzig. So muss das Leben sein. „Im Ersten Weltkrieg sind aus Peetsch 20 gefallen und im Zweiten 48“, rechnet Günther vor. Das Opfer für Volk und Vaterland hat sich nicht gelohnt. Es reicht.

Jetzt wird man nicht mal seine Schweine zum anständigen Preis los. In der Wende ist Günther aus der LPG rausgegangen und hat sich mit Schweinemast selbstständig gemacht, dann gingen die Preise in den Keller. Und der Schlachthof hat auch dichtgemacht. Da hatte der Unternehmer Wasmund seine Not, die Schweine loszuwerden, die er doch für gutes Geld verkaufen wollte. Verschenkt habe er sie dann. Das ist also Markwirtschaft. „Nee, so’n Scheiß aber auch.“ Danach kam nur noch ABM und so’n … – na ja, was soll’s.

Aus der LPG kann man aussteigen, aus der Gesellschaft nicht. Sicher, man kann Schafe schlachten, Schweine verwursten, mit Holz feuern, Fisch räuchern, der Garten ist auch groß – aber manche Sachen wird man nie los, da müsste man zum Mond auswandern.

Aber warum eigentlich? „Mir gefällt’s hier.“ Ein Baum geht ja auch nicht auf Reise, und diesem Staat entkommt man sowieso nicht. Der ist hier nach dem Umsturz – „Das war keine Wende, das war ein Umsturz!“ –, der ist hier aufgekreuzt und hat sich einquartiert wie ein Eichkater, fett und verlaust. Wenn er wenigstens die Straße nach Mirow asphaltiert hätte. Die Veränderung blickt als Adler aus dem Ausweis und als Brandenburger Tor aus dem Portemonnaie, sie liegt als Rechnung auf dem Tisch, klebt als Wappen bei der Polizei. Nee, so’n …

Günther stiefelt zum Schweinekoben, krault der Sau die Nackenborsten und murmelt: „Für Tiere muss man was übrig haben.“ Das Schwein scheuert sich voller Wonne am Pfosten und Günther wird lyrisch: „Ruhe und Rast ist die Mast.“ Er lächelt.

In Neustrelitz hatte Willi Gaida gewarnt: Der Günther Wasmund ist ein Verbrecher. Und Günther zischt auf seinem Hof: „Willi Gaida soll bloß aufpassen, der hat seinem Bruder ins Bein geschossen!“ Da machen die Gänse lange Hälse. Wer sagt die Wahrheit? Gaida ist seit über 30 Jahren Polizist in Neustrelitz, der Günther war vor Jahren Mitglied der SED-Kreisleitung, später hat ihn die Partei ausgeschlossen, heute ist er arbeitslos. Beide lieben die Jagd, der eine hat einen Schein, der andere nicht.

Nach fünf Monaten waren die Ermittlungen wegen der Wilderei abgeschlossen. Die Akten ruhten und rasteten dann anderthalb Jahre bei der Staatsanwaltschaft, als sollte Westfälischer Schinken draus werden. Der zuständige Amtsrichter ist über die Zeit gestorben, das Verfahren verzögerte sich und Willi Gaida wurde langsam melancholisch. Am Telefon klang seine Stimme müde.

Eines Frühlingstages ist es dann so weit und Günther kommt aus Peetsch gefahren, sitzt im Saal des Neustrelitzer Amtsgerichts auf der Anklagebank, links und rechts neben sich seine Söhne und weiter weg die anderen vier, angeklagt wegen Diebstahls, illegalen Waffenbesitzes und Jagdwilderei – summarisch zumindest, es sind 41 Anklagepunkte. Günther hat sich die Lesebrille aufgesetzt, kramt in Papieren, sitzt auf der Stuhlkante, als wolle er sich selbst verteidigen. Dabei hat er die Pflichtverteidigerin Laasch. Sie sitzen da wie ein ungleiches Ehepaar.

Günther kennt den Saal, hier residierte die Stasi, hier wurde er zum Stasi-Wachregiment „Feliks Dzierzynski“ gemustert. Günthers Vorfahren waren stramme Kommunisten, da gehörte sich so was. Günther kennt auch Frau Laasch. Die habe ihn schon vor fast dreißig Jahren verteidigt, als er wegen Sauferei verknackt wurde, sagt er. Sie selbst, bedauert Frau Laasch später, erinnere sich nicht mehr an diesen Auftrag. Jedenfalls war es damals mit Günthers Parteikarriere vorbei.

Günther sollte so wie sein Bruder Stasi-Offizier werden. Er wollte nicht, wurde Agraringenieur, dann stellvertretender Leiter des Agrochemischen Zentrums ACZ in Mirow und hatte einen Trecker als Dienstwagen. Und er hat immer mehr getrunken – bis er Mist gebaut hat.

„Dem Günther liegt das in den Genen“, sagt Günthers Cousine Uschi – eine Verwandte zweiten Grades. In Peetsch ist der Günther bei vielen nicht gut gelitten, vielleicht weil er trinkt, vielleicht weil er früher SED-Funktionär war und auf den Dörfern ringsum Parteiversammlungen organisiert hat. Und Günther schimpft auch kräftig über diesen und jenen, und mit vielen ist er verwandt, nicht nur mit Uschi, mit den meisten Jungs im Gerichtssaal auch.

Aus der Sache mit den dreißig Hühnern will ihm der junge Staatsanwalt gerade einen Strick drehen. Die Hühner habe der Matthias gestohlen und auf Günthers Grundstück freigelassen. Und das will der Angeklagte Günther Wasmund nicht bemerkt haben? „Nein!“, bellt Günther. Und die Anwältin Laasch flötet später, dass die Hühner nur auf dem Grundstück des Sohnes gelaufen seien und der Günther sich prinzipiell für nichts interessiere. Da kam sie der Wahrheit schon gut auf die Spur.

Begünstigung wäre das mit dem Federvieh, schmettert der Staatsanwalt. Und mit der Traktorpumpe „Famos“ und den Netzen auch, von denen der Fischer Kruse bei Besichtigung in der Asservatenkammer seine erkannt haben will und gleich eingesteckt hat. Alles futsch – wie das Fleisch. All diese Gerätschaften seien an jenem Morgen auf Günthers Grundstück gefunden worden. Die Federbetten jedenfalls habe seine Frau erst kurz zuvor im Katalog bestellt, sagt Günther später. Aber wenn interessiert das schon.

Was die Wilderei betrifft, sind Günthers ältester Sohn und sein Freund angeklagt. Richter und Staatsanwalt haben die Sache von anfangs 80 auf zehn Fälle heruntergerechnet. Es könnte schlechter laufen für die zwei. Schräg hinter Günther sitzen die Gerichtsdiener und gucken sich die Würstchen an auf den Plätzen und denken sich ihren Teil. Oder auch nicht. Jedenfalls sind die im öffentlichen Dienst und kriegen jeden Monat ihre Überweisung. Es hätte schlimmer kommen können.

Und der Rechtsanwalt Raddatz erst, der Pflichtverteidiger vom Guido, der war Stasi-Major, unter anderem zuständig für die Arbeit unter Jugendlichen. Der kennt sich in den Räumen auch gut aus, der müsste beim Guido in seinem Element sein. Raddatz ist ein freundlicher Mensch, der hat im Tiergarten der Stadt die Patenschaft für den Wolf übernommen. Manche haben die Kurve elegant hingekriegt.

Der Amtsrichter verurteilt Günther schließlich zu zwei Jahren auf Bewährung wegen Begünstigung in drei Fällen. Günthers Innendruck steigt, sein Kopf wird rot. Nein, so ein … Er wird in Berufung gehen. „Da war nix! Das sag ich dir!“ Man muss nur beharrlich geradeaus fahren und durchhalten, dann kommt man wieder da an, wo man hergekommen ist. Das ist doch eine beruhigende Aussicht.

In Willi Gaidas Büro liegen sieben Aktenordner als Erinnerung an den größten Fall von Wilderei seit Jahren. Willi Gaida wird seine müde Stimme trotzdem wohl nicht mehr los. Eine Verwarnung, viermal Bewährung und nur zwei Haftstrafen, mehr nicht, auch ein Polizeichef ist manchmal gekränkt. Gaida wird die Jahre bis zur Rente zählen.

Günther zählt den Nachwuchs. Die Wildsau im Koben hat Frischlinge bekommen, fünf pralle Würste mit Beinchen und blassen Streifen – ganz neues rosarotes Fleisch. Übers Jahr ist die Kühltruhe wieder voll. Und Mettwurst wird es geben, nicht zu fett und nicht zu trocken, haltbar und würzig, mit Senfkörnern – so wie das Leben.