Europa muss sich europäisieren

DAS SCHLAGLOCH    von MATHIAS GREFFRATH

Es braucht ein „Europa, das mit einer Stimme“ spricht – und zwar mit einer sozialdemokratischen

Europa könnte nichts weniger als die Welt retten. Richard Rorty

Wären wir das Europa, von dem Habermas, Rorty und andere träumen, hätten wir jetzt den ersten Austrittskandidaten: Italien. Wie die Dinge liegen, ist Berlusconi nur ein schwerstbegabter Vertreter der real existierenden Westlichen Wertegemeinschaft. In der korrupten Verquickung von Medien und Politik war Kohl auch gut; im Gleichschalten liegt Amerika vorn; Elf ist nicht der erste Stamokapskandal in Paris, und Blairs Vorschlag der Käfighaltung von Asylanten eine schwache Variante des Kanonen-gegen-Boatpeople-Populismus à la Bossi. Die Aufregung über den „Paten“ wird sich nach ein paar Zeitungswochen legen, denn Berlusconi steht treu zur globalen Verfassung: dem Washington Consensus. Solange der gilt, mit seinen Artikeln Sozialabbau, Kastration des Staates, Privatisierungs-Raubzug, globale Reservearmee – so lange sind alle Entgegensetzungen von Europa und Imperium, die durchs Feuilleton geistern, substanzlos.

Nein, nichts gegen die Intellektuellen-Initiative, den Werten des „alten Europa“ globale Tauglichkeit zuzusprechen: ob nun Universalismus, Völkerrecht, Sozialstaat, ja, Staatlichkeit überhaupt. Sie kommt nur zu spät. Eine Generation zu spät, weil die Weichen für das „Imperium“ (das freie Weltspiel von Multis, Kapitalmärkten, Monopolmedien) vor zwei Jahrzehnten, unter tätigem Dulden der internationalen Sozialdemokratie, gestellt wurden. Und zehn Jahre zu spät, weil die Jahre nach dem Mauerfall nicht genutzt wurden, um die Vision eines demokratischen und sozialen Europa zu propagieren und den westeuropäischen Gesellschaften entsprechende Opfer abzufordern. „So kamen wir nach Europa zurück“, sagt ein rumänischer Exreformer, „aber dieses Europa ist gar nicht mehr da.“

Jacques Delors hat damals die Chancen und Kosten der Osterweiterung gesehen und vorgeschlagen, sie mit einer spektakulären Industriepolitik zu befördern: Verkehrswege zu bauen, die Helsinki, Belgrad und Athen verbinden, Lissabon mit Paris, Warschau und Moskau. Delors ahnte, dass die Belastungen für ein Europa, das seine Zivilisation bewahren will, einen gesteigerten Opferwillen der konsumierenden Massen erfordern würden, er hat damals einen europäischen Gemeinschaftsdienst für junge Leute angedacht. Derlei Projekte gingen unter im Rausch der ökonomischen Landnahme im Osten und der westlichen Liberalisierungsschübe. Jahrelang lief so nur ein kleiner französischer Soziologe namens Bourdieu durch die Lande, mit starken Sätzen wie: „Der europäische Sozialstaat ist eine Errungenschaft, so kostbar wie Mozart, Kant und Beethoven, man muss ihn verteidigen.“

Schön wär’s gewesen. Der Entwurf der EU-Verfassung sieht weder ein europäisches Recht auf Arbeit vor noch einen wirksamen Schutz der Erziehungs- und Gesundheitssysteme, des öffentlichen Sektors insgesamt, vor ihrer Kommerzialisierung. Und die Bürger dieses Europa sollen, wie Richard Rorty flehentlich fordert, „die Welt retten“? Woher soll der „Idealismus“ kommen, zu dem die europäische öffentliche Meinung ihre Politiker „zwingen“ müsste?

Die Schwierigkeit, die Habermas und Derrida sehen, eine „ansteckende Vision“ für Europa zu entwickeln, liegt genau darin, dass die Frontstellung Amerika – Europa zu kurz greift. Es sind nicht nur die amerikanischen Milliardäre, die ein soziales Europa fürchten. Es sind ebenso die Herren von Allianz, Daimler und Siemens, die keine Steuern mehr zahlen, ihre Aktionäre, die liberalen europäischen Eliten. Man müsste heute schon ein bisschen lauter pfeifen, um – wie der Nizza-Gipfel forderte – den „Menschen Europas, und vor allem den Jungen, das europäische Projekt näher zu bringen“. Denn immer mehr Menschen in Kerneuropa, vor allem die Jungen, erfahren Europa als Verschlechterung ihrer Lebenslagen.

Wer heute noch von Europa schwärmt, höhnte in der Zeit Jan Ross, der „greift verzweifelt nach dem „letzte(n) Credo, das der europäischen Linken geblieben ist, nachdem sie vom Sozialismus Abschied nehmen musste“. Das neue Europa könne man eher in Polen, im Baltikum und Rumänien studieren, wo der „Primat der Freiheit“ und die „Hoffnung auf das Neue“ eine Heimat gefunden hätten – eine fantasievolle Umschreibung für die deregulierte wilde Welt und ein schönes Zeugnis für den funktionierenden Klasseninstinkt denkender Oberschichtler.

Denn was zieht die Türken, die Rumänen, die Marokkaner nach Europa? Ein Reich, das Kapitalismus und Kommunismus versöhnt hat. Ihr Kommen ist bedrohlich, die Alternative nicht minder teuer: ein starkes Europa, das nur sicher überleben kann, wenn es seine Vorgärten mit einer Streitmacht, mit Wirtschaftsförderung und einem unwiderstehlichen Druck zur Demokratisierung bestellt. Auch das ist bedrohlich: für die westeuropäischen Agrarier, die kein polnisches Gemüse gebrauchen können, für die neuen Millionäre in Rumänien, die den Liberalismus, aber nicht die Sozialverfassung Westeuropas wollen, für die deutschen Mittelschichten, die überproportional am Sozialstaat teilhaben, für die Konzerne, deren Spielraum unter einer europäischen Steuer- und Sozialgesetzgebung schrumpfen würde – vor allem aber für die Unterschichten in den reichen Euro-Ländern, deren Standard heute noch darauf beruht, dass die Hemden, die sie bei H & M kaufen, in Transsilvanien für fünfzig Cent die Stunde genäht werden, die Tomaten so billig sind, weil es in Marokko keine Gewerkschaftsrechte gibt. Was hätten Sie von Großeuropa?

Die Intellektuellen-Initiative für die Werte des „alten Europa“ ist prima, kommt aber viel zu spät

Kurzfristig nichts. Aber wenn die Statistiken stimmen, spüren immer mehr Euro-Bürger, dass die Dynamik der Globalisierung sie erreicht. Es wäre die Aufgabe der Sozialdemokraten, die Opfer der Gegenwart mit der Vision eines Europa zu verknüpfen, das stark und geografisch groß genug wäre, dem Sog der Finanzmärkte und des plutokratischen Amerika entgegenzuwirken. Dazu aber müssten sie dem unzeitgemäßen Gedanken nahe treten, dass eine schrankenlose Weltwirtschaft (sagte schon Adam Smith) ins kollektive Elend führt, dass es ohne den Schutz von kollektiven Gütern (= Protektion) keine moderne Demokratie gibt, und dass eine Weltgemeinschaft von Demokratien ohne eine Re-Regionalisierung der Weltwirtschaft und die Demokratisierung der real existierenden Weltregierungen IWF, WTO, OECD nicht möglich ist. Dazu bräuchte es allerdings ein „Europa, das mit einer Stimme spricht“ – und die muss sozialdemokratisch sein. Das Elend der SPD besteht darin, dass die Hälfte ihrer MdBs das auch glauben, aber ihre Oligarchie nicht.

Wenn also an Habermas etwas auszusetzen ist, dann die Zaghaftigkeit, mit der er die anstehenden Kämpfe um den Umbau der Weltwirtschaftsorganisationen in einem unscheinbaren Absatz versteckt, statt, sagen wir es mal plakativ, demonstrativ bei Attac einzutreten. Dessen Strategen denken nämlich gar nicht daran, vom demokratischen Sozialismus Abschied zu nehmen, auch wenn das einen langen Atem erfordert. Mittelfristig setzen sie auf das in der EU-Verfassung garantierte plebiszitäre Recht der EU-Bürger – ein Recht freilich, das auf den Straßen verenden wird, wenn sich Gewerkschaften und linke Parteien nicht a tempo europäisieren.