: Aufrüstung der Pässe
Im Wettlauf um die Vereinheitlichung der Ausweise will die EU nicht hinter den USA zurückstehen
AUS BERLIN ULRIKE WINKELMANN
Hätte es eines Beweises bedurft, dass die Europäische Union ein Demokratie-Problem hat – die biometrischen Pässe sind einer. Nahezu unbemerkt wird derzeit in Brüssel in die Wege geleitet, was zum Beispiel das deutsche Parlament ausdrücklich verhindern wollte.
Eine EU-Verordnung, die bis Ende des Jahres beschlossen sein soll, sieht vor, dass ab 2005 erst ein digitalisiertes Lichtbild und dann der digitalisierte Fingerabdruck auf die Pässe aller EU-Bürger kommen. Außerdem will die Verordnung die rechtlichen Voraussetzungen schaffen, nationale Zentraldateien mit den biometrischen Daten aller Bürger anzulegen. Als Zukunftsperspektive könne daraus eine EU-Zentraldatei entstehen. Begründet wird dies mit der Notwendigkeit, als Reaktion auf die terroristischen Anschläge vom und seit dem 11. September 2001 die Sicherheit von Dokumenten zu erhöhen. Dies müsse international „harmonisiert“ stattfinden.
Damit will der EU-Ministerrat beschließen, was in Deutschland nun gerade nicht als Konsens bezeichnet werden kann. Jedenfalls noch nicht. Denn hier hat man sich im atemlosen Hickhack um die Sicherheitsgesetze nach dem 11. September 2001 darauf geeinigt, dass Biometrie in Ordnung sei – aber nur unter einem „Ja, aber“-Vorbehalt.
„Der Pass darf neben dem Lichtbild und der Unterschrift weitere biometrische Merkmale von Fingern oder Händen oder Gesicht des Passinhabers enthalten“, war die Formulierung, die es Ende 2001 ins Passgesetz schaffte. Zur Festlegung eines – wohlgemerkt: eines einzigen – biometrischen Merkmals sollte ein weiteres Gesetz nötig sein.
Und: „Eine bundesweite Datei wird nicht eingerichtet“, beschloss der Bundestag. Zu schwer wog die Befürchtung, dass durch die Einrichtung eines Zentralregisters die Polizei Begehrlichkeiten entwickeln würde. Früher oder später würde jede an einem Verbrechensort gefundene Spur mit dem Zentralregister abgeglichen werden. Und jeder Bürger, der je eine Spur, sei es ein Fingerabdruck oder ein auf Video gebanntes Gesichtsbild, an einem Tatort hinterlassen hätte, gälte als Verdächtiger.
Die Einrichtung eines zentralen Passregisters sieht nun auch der Bundesdatenschutzbeauftragte Peter Schaar als „größtes Problem“ der anstehenden EU-Verordnung. Die Festlegung auf Gesichtsbild und Fingerabdruck zum einen und das Zentralregister zum anderen „sind eine brisante Mischung“, sagt er.
Schaar entwirft, was er selbst ein „Überwachungsszenario nie gekannten Ausmaßes“ nennt: Eine Zentraldatei mit den digitalisierten Fotos aller EU-Bürger könnte dazu dienen, die Videobilder aus allen Kameras auszuwerten, die mittlerweile im öffentlichen wie privaten Raum installiert sind. Nicht nur könnte dann jeder Schritt jedes Bürgers gefilmt werden – der Staat hätte auch die Möglichkeit, jedem Bild einen Namen zuzuordnen.
Die geplante EU-Verordnung ist maßgeblich auf Druck von Bundesinnenminister Otto Schily zustande gekommen. Schily bedient sich hier einer Strategie, für die das Englische den schönen Begriff policy laundering gefunden hat, zu Deutsch „Politik-Wäsche“. Gemeint ist, dass Regierungen internationale Verpflichtungen vorschieben, um daheim Diskussionen abzuwürgen.
Im Fall der Biometrieverordnung kann sogar von einer doppelten Wäsche gesprochen werden: Erstens umgeht Schily in Brüssel möglichen Ärger in Berlin. Zweitens verweist der Verordnungsentwurf darauf, dass die EU ja auch bloß nachvollzieht, was auf übergeordneter Ebene bereits vorgedacht wurde.
Denn die ICAO, die Internationale Zivile Luftfahrt-Organisation, hat längst festgelegt, dass die Gesichtserkennung – also das digitale Lichtbild – und der Fingerabdruck die international gewünschten Biometrien sind. Die Iris taucht zwar bei der ICAO auch als Option auf. Doch längst hat sich der Fingerabdruck als praktikabelste Lieblingsbiometrie der Innenminister weltweit etabliert – auch in den USA. Die USA wiederum verlangen von den EU-Staaten, dass sie ihre Pässe nach ICAO-Standards biometrisch ausrüsten.
Bundesdatenschützer Schaar meint, dass die Verordnung auf ihrem Weg durch die Gremien noch zu ändern sei. Zwar haben weder die europäischen Datenschutzbeauftragten noch das Europäische Parlament, das sich nach den Europawahlen mit der Sache befassen will, mehr als bloß beratende Stimme. Aber „man darf die politischen Einflussmöglichkeiten in Brüssel nicht unterschätzen“, erklärt Schaar optimistisch.
Doch es sieht nicht aus, als ließe sich die EU davon abbringen, die Ausweise im Wettlauf mit den USA zu standardisieren. Was die EU demnächst von ihren Bürgern verlangen möchte, wird nämlich bereits an den Bürgern des großen Rests der Welt durchexerziert. Für Visa und Aufenthaltspapiere von „Drittstaatlern“ sind biometrische Merkmale ab 2005 und Zentraldatei längst beschlossene Sache.
Die Vorarbeit leistete wiederum Deutschland: Hier werden seit den 90er-Jahren die routinemäßig mit dem Afis-System des Bundeskriminalamts erfassten Fingerabdrücke aller Asylbewerber zu Strafverfolgungszwecken genutzt. Für Flüchtlinge gilt also bereits, was Datenschützer für bedenklich halten: zwei staatliche Funktionen – die Identifizierung von reisenden Menschen und die Strafverfolgung – werden vollständig miteinander vermischt. Absehbar ist, dass die Polizeibehörden auch nach der EU-Visa-Datei die Finger ausstrecken werden. Wer sich bewegt, ist verdächtig.
EU-Bürger, die Bedenken gegen die biometrische Aufrüstung hegen, müssen sich dann entgegenhalten lassen, dass sie doch sicherlich für sich selbst nicht mehr Privatheit in Anspruch nehmen wollen, als dem Rest der Welt zugebilligt wird. Im Übrigen wäre es natürlich rein technisch unsinnig, für Drittstaatler andere Standards gelten zu lassen als für EU-Bürger: Die ohnehin gigantischen Kosten für Software und Hardware würden dadurch verdoppelt.
Ob sich die Investition in eine vereinheitlichende Aufrüstung aller Ausweispapiere überhaupt lohnt, fragt auch Thomas Petermann vom Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. Biometrie könnte sich eignen, Missbrauch und Fälschungen von Visa vorzubeugen, sagt er. „Aber muss man deshalb alle EU-Bürger erfassen?“ Je nachdem wie aufwändig die neuen Pässe ausgerüstet werden, beziffert Petermanns Büro allein die Investitionskosten in Deutschland auf bis zu 669 Millionen Euro.
Eine Grundsatzfrage droht zwischen datenschützerischen und finanziellen Bedenken oft hindurchzurutschen: Lässt sich die biometrische Aufrüstung aller Papiere überhaupt mit dem 11. September 2001 rechtfertigen?
Der Erfinder der Iris-Erkennung, John Daugman von der englischen Cambridge-Universität, hat darauf eine eindeutige Antwort: Nein. „Identifikation und Antiterrorismus durcheinander zu bringen, das ist fehlerhaftes Denken“, sagt er. Wenn man alle EU-Bürger biometrisch erfasst, wisse man schließlich noch lange nicht, wer davon ein Terrorist ist.
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